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Noch immer zu wenig Sachverstand
Erich Kartmann

Noch immer zu wenig Sachverstand

Straße in Mumbai

Foto: Pexels, Vijit-Bagh

Auch nach drei Jahren Coronapandemie fällt es manchen Journalisten schwer, einordnend über das Corona-Virus zu berichten. Ein Beispiel.

Viele Medien meldeten kürzlich, dass in Indien eine neue Corona-Variante aufgetaucht sei. So berichtete auch die Berliner Zeitung am 21. März mit der Überschrift „Experten warnen vor neuer Corona-Variante ,Arcturus‘“. Bei ihrem Twitter-Account stellte die Zeitung den Teaser „Experten beobachten bereits einen Anstieg von 281 Prozent bei den Corona-Neuinfektionen und einen Anstieg von 17 Prozent bei Todesfällen im Zusammenhang mit #Corona. #Arcuturus“ voran. Unter anderem wurde weiter berichtet, dass es derzeit von dieser Untervariante täglich ungefähr 800 Neuinfektionen gebe, insgesamt seien es 5.389 „aktive Fälle“.

Immer die gleichen methodischen Fehler

Auch nach drei Jahren beherrschen offenbar manche Journalisten immer noch nicht das kleine Corona-Einmaleins. Munter wird nämlich hier wieder ein positives Testergebnis mit einer Infektion in einen Topf geworfen, die Testanzahl nicht durch die Anzahl der positiven Tests geteilt und wichtige Relationen nicht ins Verhältnis gesetzt oder gar eingeordnet.

So ist es von großer Relevanz darzustellen, dass Indien – das soeben China als das bevölkerungsreichste Land der Welt überholt hat – circa 1,417 Milliarden Einwohner hat. Bezogen auf die Gesamtbevölkerung sind also die zurzeit 5.400 „aktiven Fälle“ der neuen Variante gerade einmal 3,8571428571428571428571428571429e-4 beziehungsweise 0,00004 Prozent (gerundet 0,00 Prozent).

Ähnlich sieht es übrigens mit den angeblich an Sars-CoV-2-Verstorbenen in Indien aus: Bis zum 9. Dezember 2022 sollen in dem Land insgesamt 530.653 Menschen im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 gestorben sein. (https://www.cia.gov/the-world-factbook/countries/india/#environment) Das sind 0,00379 Prozent (gerundet 0,00 Prozent) der Gesamtbevölkerung. Für eine Inderin oder einen Inder ist also das Risiko, gerade an Sars-CoV-2 und dessen Varianten zu sterben, im Bereich „unwahrscheinlich“ anzusiedeln.

Immer dieser eurozentristische Blick

Häufigste Todesursache in Indien sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen, gefolgt von Erkrankungen der Atemwege, Tuberkulose, Krebs, Erkrankungen des Verdauungssystems und Durchfallerkrankungen. Dafür sind in diesem Land Faktoren mitverantwortlich, die im Leben der Einwohner von hochentwickelten Industrienationen keine Rolle (mehr) spielen.

So leben 44 Prozent der Inder in extremer Armut. Sie haben weniger als einen US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Fast ein Drittel der Bewohner der Millionenstädte hausen in Elendsvierteln. Allein in Mubais Slum Dharavi, einer der größten der Welt, leben mehr als eine Million Menschen unter katastrophalen Bedingungen auf engstem Raum. New Delhi, mit 25 Millionen Einwohnern, gehört zu den dreckigsten Städten der Welt (Stand 2015).

Wegen den schlechten hygienischen Bedingungen, dem fehlenden Zugang zu sauberem Trinkwasser und Sanitäranlagen, sind Krankheiten wie bakterieller Durchfall, Hepatitis A und E, Typhus, Dengue-Fieber, folmorrhagisches Fieber, japanische Enzephalitis, Malaria und Leptospiros weit verbreitet. Und in vielen Dörfern gibt es keine medizinischen Einrichtungen.

Ein Viertel der Bevölkerung ist zudem von Unter- und Fehlernährung sowie Vitaminmangel betroffen, besonders in den ländlichen Gebieten. Auch die extrem hohe Luftverschmutzung hat Konsequenzen: Nach Schätzungen der WHO starben 2012 etwa 4,1 Millionen Menschen an den Folgen, besonders viele in Asien.

Auch die indische Corona-Politik ist lebensgefährlich

In dieser Situation erklärte die indische Regierung am Abend des 24. März 2020 eine Ausgangssperre. Bereits vier Stunden später trat diese in Kraft. Die Konsequenz: eine Binnenmigration von Dutzenden Millionen Menschen, die schlagartig arbeitslos geworden waren und daher nicht mehr an ihrem Arbeitsort überleben konnten. In unseren Medien war aber die größte Sorge, dass dadurch das Virus im Land verbreitet werden könnte – und nicht, dass diese Menschen um ihr nacktes Überleben kämpften. Der Lockdown wurde später sogar noch bis zum 3. Mai 2020 verlängert – und das bei seinerzeit gerade einmal etwa 350 Sars-CoV-2-Verstorbenen.

Erich Kartmann arbeitete nach dem Philosophie- und Germanistikstudium viele Jahre als Redakteur für Politik und Kultur bei einer Tageszeitung in Berlin. Vor dreizehn Jahren machte er sich als Lektor selbstständig.

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