ressorts.
Wie Narrative die Wahrheit verdecken
Handwerker-Friedens-Kongress

Wie Narrative die Wahrheit verdecken

Gabriele Krone-Schmalz spricht in Dessau-Roßlau.

Die Journalistin und bekennende Russlandversteherin Gabriele Krone-Schmalz sprach beim ersten Handwerker-Friedens-Kongress über den Motor der Demokratie und erntete Standing Ovations.

„Wehret den Anfängen! Genau. Wehret den Anfängen!“ Dazu forderte Gabriele Krone-Schmalz ihre 250 Zuhörer auf. Und damit meinte sie nach eigenen Worten nicht einen sofort drohenden Faschismus. „Sondern eine drohende Katastrophe durch weitere kriegerische Auseinandersetzungen, an deren Ende ein atomarer Supergau zumindest nicht ganz ausgeschlossen werden kann.“ Das sagte die Journalistin und ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD am Sonntag, den 2. April, beim ersten Handwerker-Friedens-Kongress in Dessau-Roßlau.

„Demokratischer Konsens ist die Vorstufe zum Faschismus, egal welcher Art!“ Das betonte die Journalistin dreimal in ihrer Eröffnungsrede. Weil, wie sie sagte, „Begriffe wie Kriegswirtschaft, Kriegsmentalität, Kriegsmüdigkeit in unserem Land wieder eine aktuelle Rolle spielen“, das hätte sie nicht für möglich gehalten. Das zeige auch, dass Frieden leider keine Selbstverständlichkeit sei, sondern „harte Arbeit“, in der man nicht nachlassen dürfe. „Und wenn diese Erkenntnis der politischen Führungsebenen verlorengegangen ist, dann braucht es Initiativen wie die Ihre, um darauf aufmerksam zu machen“, sprach sie die Organisatoren des Kongresses an.

Mündige Bürger seien in einer Demokratie systemrelevant, um mündige Entscheidungen zu treffen, so die anerkannte Russlandversteherin. In einem Interview am Rand der Veranstaltung bedauerte sie, dass das Wort „Russlandversteher“ so eine negative Bedeutung bekommen hat. Nach ihren Worten können ihre Bücher über Russland nun direkt über ihre Webseite bestellt werden. Sie sehe es nicht ein, warum man „für abgewetzte Gebrauchtexemplare fast 100 Euro ausgeben“ müsse.

Motor der Demokratie

Die Voraussetzung für mündige Entscheidungen sei, so umfassend wie möglich informiert zu sein – über Hintergründe Bescheid zu wissen und Zusammenhänge zu überblicken. „Und wenn ich von umfassender Information spreche, dann meine ich umfassend“, so die ehemalige ARD-Auslandskorrespondentin.

„Ich muss mich aus meiner eigenen Blase lösen. Ich muss mir meiner eigenen Sozialisation bewusst sein und von all dem, was mir vertraut und wichtig ist, abstrahieren können, um mit möglichst unverstelltem Blick an die Sache heranzugehen“, betonte Krone-Schmalz und zitiert die Publizistin Hannah Arendt: „Pluralität der Meinungen ist der Motor der Demokratie.“

Und sie ging auf den Begriff „Narrativ“ ein: Was früher mit dem Wort Wahrheit umschrieben wurde, heiße heutzutage Narrativ, also Erzählung. Wenn sich ein Narrativ in der veröffentlichten Meinung durchgesetzt habe – völlig unabhängig davon, wie sich die öffentliche Meinung im Gegensatz dazu darstelle, dann würden dort keine Argumente mehr ausgetauscht, sondern die Deutungshoheit beansprucht. Und jeder, der sich abseits des Narrativs oder außerhalb des Mainstreams bewegt, der macht sich verdächtig.

Drei Revolutionen

Wer Gegenwärtiges verstehen wolle, der müsse Vergangenes wenigstens ansatzweise kennen, hob Krone-Schmalz hervor. Sie skizzierte die politische Entwicklung Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion, um ein paar Eckpunkte wieder ins Gedächtnis zu rufen. Das helfe, Ursache und Wirkung des Ukraine-Konfliktes zu verstehen.

Unter der Perestroika-Politik von Michail Gorbatschow sei für die Russen aus dem alten Feind im Westen der Freund geworden, „von dem man lernen und den man bewundern konnte“. Eine beispiellose Aufbruchstimmung verlieh ihrer Erfahrung nach der russischen Gesellschaft ungeahnte Kräfte. Sie habe genau zu dieser Zeit in Moskau gelebt und gearbeitet. „Dieser kraftvolle Aufbruch“, fuhr sie fort, „ist umso bemerkenswerter, als den Russen oder besser den Sowjetbürgern sämtliche Strukturen und Regeln abhandenkamen“.

Innerhalb kürzester Zeit habe Russland drei Revolutionen gleichzeitig erlebt. Die erste: von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Die Menschen aus der ehemaligen DDR verstehen das in der Regel besser, ist sich Krone-Schmalz sicher, weil sie das selbst erfahren haben, wenn auch in einer anderen Größenordnung. Die zweite Revolution sei die von der Diktatur der Kommunistischen Partei zu rechtsstaatlichen Strukturen und die dritte die von der Sowjetunion zum Nationalstaat.

Unterschätzte Zerreißproben

Diese Zerreißproben für die russische Gesellschaft wurden nach ihrem Eindruck von westlichen Beobachtern immer unterschätzt. Dabei hätte jedem klar sein müssen, dass es eines gewaltigen Kraftaktes bedurfte, das Vakuum, das zwangsläufig entsteht, wenn man alte Strukturen einreißt und neue noch nicht zur Verfügung sind, möglichst heil zu überleben. „Also alles weg. Politisch, wirtschaftlich, ideologisch sowieso. In einem Land, das sich über elf Zeitzonen erstreckt.“

Die Publizistin machte darauf aufmerksam, dass der Westen für alle Verbrechen und Verletzungen durch die Sowjetunion in Bausch und Bogen Russland verantwortlich gemacht habe. Alle anderen postsowjetischen Staaten hätten vom politischen Westen die Chance für einen mehr oder weniger unbelasteten Neuanfang bekommen. Russland nicht.

Auf Gorbatschow und Perestroika folgte Boris Jelzin, der Hoffnungsträger. An dem der Westen selbst dann noch festhielt, als die Begeisterung in Russland „längst einer Ernüchterung gewichen war“, wie Krone-Schmalz erinnerte. Ein großer Teil der russischen Bevölkerung habe zunächst überwiegend Positives mit dem politischen Begriff „Westen“ verbunden, auch wenn Boris Jelzin von Reformen und Demokratie sprach. Doch der russische Alltag sei sehr bald von „Wildwest-Kapitalismus und Korruption und chaotischsten Zuständen“ bestimmt worden – und Jelzin durch mehr als zweifelhafte Privatisierungen von Schlüsselindustrien zum Geburtshelfer der Oligarchen geworden. Gleichzeitig seien sämtliche Strukturen in Anarchie versunken. „Da war nichts mehr“, so die Journalistin.

Diktatur des Gesetzes

Die Bürger Russlands hätten sich Liberalisierung und Demokratisierung anders vorgestellt. Damit seien diese beiden Begriffe nachhaltig beschädigt und nicht mit irgendwelchen erstrebenswerten Zuständen verbunden worden. Das dürfe man nicht vergessen, hob sie hervor. „Und in dieser Situation, da kam Wladimir Putin gerade recht. Wenn Sie sich erinnern, das Kontrastprogramm zu Jelzin: ein junger, sportlicher, gesunder Mann. Der nicht gleich in Ehrfurcht erstarrt, wenn irgendwo einer aus dem Westen auftaucht.“

Eine der größten Leistungen Putins bestehe darin, dem russischen Volk nach all den Demütigungen Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein wiedergegeben zu haben. Er sei zu einem Zeitpunkt russischer Präsident geworden, als sich jegliche staatliche Ordnung aufgelöst habe und kriminelle Strukturen das einzig Verlässliche gewesen seien. In einer solchen Situation blieben laut Krone-Schmalz Moral und Anstand – der Kitt einer Gesellschaft, in der man sich wohlfühlen kann – auf der Strecke: Die Menschen glauben an nichts und niemanden und schon gar nicht an Recht und Gesetz. Putin habe damals den Begriff „Diktatur des Gesetzes“ geprägt. Das sei im Westen mit Empörung wahrgenommen worden: „Man hörte ‚Diktatur‘ und war alarmiert. In Russland hörte man ‚Gesetz‘ und schöpfte zaghaft Hoffnung.

„Moskau funktioniert nach wie vor im Westen, aber insbesondere für Länder wie Polen und die baltischen Staaten, als Synonym für die Sowjetunion und steht nicht für einen Neubeginn, den es unzweifelhaft in Russland gab.“ Das scheint ihr „einer der zentralen politischen Fehler der vergangenen Jahrzehnte gewesen zu sein. Und dass die EU genau diesen Ländern – die aus menschlich verständlichen Gründen offene Rechnungen mit Russland haben – immer mehr das Sagen in der europäischen Außenpolitik gegenüber Russland überlassen hat. Das ursprünglich recht gute Verhältnis zwischen EU und Russland wurde dadurch nachhaltig ruiniert.“

Komfortabel lebende Zaungäste

Nach der Jelzin-Zeit habe der Begriff Stabilität in Russland eine enorme Bedeutung gehabt. Putin habe „alles nur Mögliche“ versucht, um diese Stabilität zu gewährleisten beziehungsweise überhaupt erst einmal herzustellen.

Dass Russen in ihrer Mehrheit Stabilität und auskömmliches Leben zunächst mal für wichtiger als zügige Demokratisierung hielten, sei generell im Westen nie akzeptiert worden. Krone-Schmalz hat das nach ihren Worten als ziemlich arrogant empfunden, denn „wir waren und sind nur komfortabel lebende Zaungäste“. Sie stimme der Aussage Putins zu: „Echte Demokratie entsteht nicht über Nacht.“ Das werde dadurch, dass es vom russischen Präsidenten stamme, nicht falsch.

Der Putin von heute sei mit dem von damals nicht zu vergleichen, so die Journalistin. Sie könne denjenigen nicht folgen, die ihn mit dem Wissen von heute im Rückblick zum Monster stilisierten, das alles von langer Hand vorbereitet habe. „Meine These geht anders. Wäre Putin in seiner ersten und zweiten Amtszeit vom Westen respektiert und unterstützt worden, hätte sich die russische Gesellschaft ganz anders entwickeln können, davon bin ich überzeugt.“

Kleiner Schritt zur Kriegsbereitschaft

Krone-Schmalz ging auch auf die aktuellen Ereignisse ein, so auf den Empfang von Wolodymyr Selenskyj bei seinem EU-Besuch Anfang Februar in Brüssel – „wo die politischen Entscheidungsträger wie bei einem Popkonzert ausflippen und die EU-Kommissionspräsidenten sich aufführt, wie ein verliebter Teenager“. Die Journalistin verurteilte die unverhohlene Kriegsrhetorik der EU-Politiker, die für das Kerngeschäft der Politik, nämlich Diplomatie, überhaupt keinen Raum mehr lasse. Jeder, der in diese Richtung denke, „wird ja schon zum Volksverräter und zum Putin-Propagandisten“.

Niemand sollte unterschätzen, warnte sie, „wie klein der Schritt von solcher Kriegsrethorik zur Kriegsbereitschaft ist“. Und dann werde sich ein Anlass finden angesichts des totalen Vertrauensverlustes auf beiden Seiten.

Ihre Rede schloss Krone-Schmalz mit dem Worten der jüngst verstorbenen Antje Vollmer: „Wir müssen Hass und Krieg verlernen.“ Dazu könne jeder Einzelne seinen Beitrag leisten. Das sei gelebte Demokratie, in der Werte und Moral nicht beliebig zurechtgebogen werden. „Denn Demokratie kann auf Dauer nur funktionieren, wenn alle in ihr lebenden Menschen begreifen, dass sie sich mit ihrer faktenbasierten Meinung einmischen müssen.“ Das Publikum reagierte darauf und auf die Rede insgesamt mit Standing Ovations.

Diesen Artikel teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Telegram

schwarz auf weiß unterstützen

Freiwilliges Zeitungs-Abo oder Einzelspende an:

IBAN: DE83 1005 0000 0191 2112 65
(BIC: BELADEBE)

Kontoinhaber: Flugwerk UG (haftungsbeschränkt)

oder hier PayPal –

Ein Abo ist freiwillig. Alle Inhalte sind ohne Bezahlung verfügbar.

ODER
alles von Paul Brandenburg

Spenden an Paul Brandenburg persönlich werden für alle seine Projekte verwendet: