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Der deutsche Mittelstand am Abgrund: „Wir sind in der Deindustrialisierung angekommen“
Wirtschaftskrise

Der deutsche Mittelstand am Abgrund: „Wir sind in der Deindustrialisierung angekommen“

Foto: Foto: Pexels, Engin Akyurt

Immer mehr Unternehmern und Ökonomen in Deutschland wird gegenwärtig bewusst, welche Folgen die multiplen Krisen für den deutschen Mittelstand haben. Der ehemals wichtigste Treiber der deutschen Wirtschaft, der Mittelstand, steht vor eisigen Zeiten und blickt in eine ungewisse Zukunft.

Der Unternehmer Axel Turck schüttelt ungläubig mit dem Kopf: „Wir werden nach Strich und Faden beschissen“, sagt der mittelständische Familienunternehmer aus dem Ruhrpott. Die Politik habe versagt, den Mittelstand in seiner größten Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu retten. Axel Turck leitet das Familienunternehmen „Emil Turck GmbH“, eine Gießerei aus Lüdenscheid mit 60 Mitarbeitern, die über 400 Tonnen Guss pro Jahr an Unternehmen verkauft, die überwiegend aus dem Maschinenbau kommen. „Wir sind in hohem Maße von Gas und Strom abhängig, um das Aluminium herzustellen“, führt der Unternehmer aus und gibt zu bedenken, dass wenn die Energiepreise um den Faktor vier bis fünf steigen, dies „die Kalkulation unserer Firma kaputtmacht“. Er ist einer von zahlreichen Unternehmern, deren Existenz aktuell bedrohter ist denn je.

Der Mittelstand bildet das Herzstück des deutschen Wohlstandes und stand stellvertretend für Innovation, Unternehmergeist und technologische Stärke. Doch der Grundpfeiler des Erfolgs der deutschen Wirtschaft ist gegenwärtig bedroht. Nicht erst seit dem Ukraine-Krieg und der darauffolgenden Energiekrise steht der Sektor unter Beschuss, bereits die restriktive Corona-Politik hat zahlreiche Unternehmen an den Rand der Insolvenz gebracht. Nun sind es aktuell die rasant steigenden Energiepreise, die der Branche zu schaffen machen, und für Verunsicherung und Existenznöte sorgen.

Das Rückgrat der deutschen Wirtschaft

Der deutsche Mittelstand ist mit seinen drei Millionen Unternehmen für 60 Prozent aller Arbeitsplätze und für über 80 Prozent der Ausbildungsplätze verantwortlich. Die dort abgebildeten Unternehmen reichen – je nach Definition – vom kleinen Handwerksbetrieb bis zum milliardenschweren Hidden Champion. Man kann getrost sagen: Geht es dem Mittelstand gut, so geht es Deutschland gut. Doch die aktuellen Entwicklungen stellen die Unternehmer vor massive Herausforderungen.

Seit dem Ausbruch des Ukraine-Krieges am 24. Februar 2022 und den Sanktionen gegen Russland ist die gute Stimmung vorüber. Das günstige Gas aus Russland hat den Grundstein für den wirtschaftlichen Erfolg der Industrie gelegt. Nun sind die Gaspreise etwa zehnmal so hoch wie in den USA. Dazu kommen sanktionsbedingte Lieferausfälle sowie Materialengpässe, die die Produktion ebenfalls beinträchtigen. Eine aktuelle Umfrage von Forsa kommt zu dem Ergebnis, dass jedes vierte größere mittelständische Unternehmen im produzierenden Gewerbe bereits die Produktion heruntergefahren hat oder dies kurzfristig plant. Auch eine Umfrage der DZ Bank kommt zu dem Ergebnis, dass die schwierige Lage zu Umstrukturierungen führen wird. So gaben zwei Drittel der befragten Mittelständler an, dass die gestiegenen Strompreise ihr Geschäft beeinträchtigen, bei Gas sind es gar 55 Prozent. Sollte es im Winter zu einer Gasmangellage kommen, befürchten 44 Prozent erhebliche Beeinträchtigungen; 24 Prozent müssten nach eigenen Angaben Geschäftsbereiche schließen.

Der Mittelstand muss kämpfen

Viele Mittelständler beklagen, dass die Politik an der Realität vorbei Entscheidungen trifft, die schwerwiegende Folgen für den täglichen Betrieb haben. Die Auftragslage sei „katastrophal“, so Axel Turck. Diese sei bereits um 30 Prozent zurückgegangen, weshalb „bestimmte Maschinen schon ausgeschaltet“ wurden, erläutert der Unternehmer. Dadurch werde zwar Energie gespart, jedoch „kein Umsatz oder Gewinn erzielt“, der notwendig ist, um die laufenden Kosten, wie beispielsweise die Gehälter der Mitarbeiter, stemmen zu können. Ein „Teufelskreis“ entstehe dadurch: Hohe Energiekosten senken zwangsweise die Produktion und führen zu höheren Preisen. Diese werden zunächst noch von den Unternehmen getragen, jedoch zeitnah an den Endverbraucher, sprich Bürger und Konsumenten, weitergegeben, um nicht in Schieflage zu geraten. „Wir brauchen daher einen Preisdeckel für Gas und Strom, sonst bringt uns das um“, fordert der Unternehmer aus dem Ruhrpott, der noch wirklich weiß, was es heißt Hand anzulegen.

„Das ist Gift für die deutsche Wirtschaft“

Die prekäre Lage spüren auch die Verbände. Dr. Hans-Jürgen Völz, Chefvolkswirt des Bundesverbandes Mittelständische Wirtschaft (BVMW), erläutert, dass Unternehmen aus dem Mittelstand im Gegensatz zu den großen international agierenden Unternehmen auf den „Standort und dessen Bedingungen angewiesen“ sind und die Produktion nicht einfach ins Ausland verlegen können. Er berichtet, dass Unternehmen über „Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und mangelnde Klarheit“ klagen. Als Ursache nennt Völz die „restriktive Corona-Politik der Bundesregierung“, die mit „überflüssigen Lockdowns“ die Unternehmen in Schwierigkeiten gebracht habe.

Der Verband, der nach eigenen Angaben rund 55.000 Mitglieder zählt und die Interessen der mittelständischen Wirtschaft vertritt, steht in direktem Austausch mit den Entscheidungsträgern in der Politik. Die Gespräche mit diesen seien zwar „konstruktiv“ verlaufen, doch es habe an wirklicher „Kooperation und Zusammenarbeit mit dem Mittelstand“ gefehlt, erläutert der Chefvolkswirt. „Im Mittelstand kommt vom Sondervermögen der Bundesregierung zu wenig an.“ Bundeskanzler Olaf Scholz hatte Ende September mit einem von ihm als „Doppelwumms“ bezeichneten Hilfspaket 200 Milliarden Euro Sondervermögen angekündigt, um Unternehmen und Verbraucher vor hohen Energiepreisen zu schützen. „Davon profitiert überwiegend die Rüstungsindustrie, Unternehmen wie Rheinmetall oder Krauss-Maffei“, der Mittelstand werde vernachlässigt, gibt Völz zu bedenken. Unternehmen können die erhöhten Energiepreise nicht in vollem Umfang auf die Kunden abwälzen, was zur Folge hat, dass Aufträge häufig nicht angenommen werden können. „Das ist Gift für die deutsche Wirtschaft“, so der Ökonom.

„Die Politik hat den Bezug zur Realität verloren“

Der deutsche Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck sorgte kürzlich für Aufsehen, als er in der Talkshow „Sandra Maischberger“ feststellte, dass Unternehmen, die „erstmal aufhören zu produzieren“, nicht automatisch insolvent seien, sie könnten ja später die Produktion wieder hochfahren, so Habeck. Axel Turck hat aufgrund solcher Aussagen das Vertrauen in die Politik verloren: „Die Politiker haben den kompletten Bezug zur Realität verloren, die wissen gar nicht, wie so ein Betrieb funktioniert“, beklagt er. „Wenn kein Umsatz kommt, ist das Konto irgendwann leer“, führt Turck aus und erläutert, was zahlreiche Ökonomen bereits bestätigen: „Wir befinden uns in einem Prozess der Deindustrialisierung.“ Doch wie soll es in Anbetracht all der Krisenherde weitergehen, und welche Maßnahmen müssten ergriffen werden, um dem wirtschaftlichen Niedergang entgegenzuwirken?

Alte Zöpfe

Hans-Jürgen Völz hält die sich abzeichnende Rezession für „nicht zwangsläufig“, sie hänge viel mehr vom „politischen Willen ab.“ Ein wesentlicher Ansatzpunkt, um Unternehmen zu entlasten, sei der Bürokratieabbau. „Es gibt seit einigen Jahren eine Erhebung des statistischen Bundesamtes, mit der die gesamten Bürokratiekosten gemessen werden, und diese liegen bei 51 Milliarden Euro, Tendenz steigend.“ Wenn es parteiübergreifend ein Bestreben gäbe, für effektive Entlastung zu sorgen, „dann wäre den Unternehmen sehr geholfen“, so Völz. Es liege am politischen Willen, sich von „alten Zöpfen zu trennen.“

Von diesen „alten Zöpfen“ muss sich auch Axel Turck womöglich bald trennen, denn wenn die Politik weiterhin an ihrem Kurs festhält, könnten auch in seinem Unternehmen bald die Lichter ausgehen. Turck ist dennoch Optimist: „Wir haben Krisenzeiten immer gut überstanden, zwei Weltkriege überlebt, ich glaube, wir schaffen das“, hofft der Unternehmer. Ob er auch ein weiteres Jahr die Ampel-Regierung überstehen wird, bleibt abzuwarten.

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