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Land ohne Mut
Michael Esfeld

Land ohne Mut

Foto: Achgut Edition

In seinem neuen Buch deutet der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld die Corona- und Klimapolitik sowie Wokeness und Cancel Culture als Phänomene eines neuen Totalitarismus aus dem Geist der Postmoderne. Seine Lösungsvorschläge setzen tief an der Wurzel an.

Der Philosophieprofessor Michael Esfeld ist ein ebenso unbeirrbarer wie hochreflektierter Kritiker der Coronamaßnahmen. Seine konkreten Einwände legen immer auch strukturelle Defizite unserer Gesellschaft offen, die sich mit Siebenmeilenstiefeln dem Totalitarismus nähert. Diesen zu verhindern, ist Esfelds politisches Anliegen. 

In seinem neuen Buch “Land ohne Mut” bündelt und erweitert er zugleich seine Kritik, indem er sie in ein erhellendes geistesgeschichtliches Licht rückt. Die Erosion des Rechtsstaats durch die Coronamaßnahmen ist für ihn zugleich Symptom und Mittel eines totalitären Projektes. „Der Kern totalitärer Herrschaft ist eine angeblich wissenschaftliche Lehre, welche die Staatsgewalt einsetzt, um das gesamte soziale und auch private Leben zu lenken.“ Zu diesem Zweck werden allgemeine Güter absolut gesetzt. Um diese zu verwirklichen, muss die bestehende Ordnung zerstört werden, was vor allem durch künstliche Verknappung von Ressourcen geschieht, die den Bürgern dann je nach Grad von Gehorsam zugeteilt werden können.

Im Unterschied zum klassischen Totalitarismus verzichte der neue Totalitarismus auf große Erzählungen über das eine kollektiv und absolut Gute. „An ihre Stelle treten kleine Narrative, die jeweils ein austauschbares kollektives Gut postulieren. Das kann Gesundheitsschutz vor der Ausbreitung eines Virus sein, Schutz vor Klimawandel, Schutz angeblich benachteiligter Gruppen usw.“ Der aktuelle Totalitarismus sei wie eine Hydra, die man nicht besiegen könne, indem man eines der vielen Narrative entlarvt. Denn dann werde sogleich ein neues aus dem Hut gezaubert. Diese Flexibilität mache den neuen Totalitarismus so gefährlich.

Real existierende Postmoderne

Verzicht auf große Erzählungen ist das besondere Merkmal der Postmoderne. Zu diesen Erzählungen zählt sie unter anderem auch das Narrativ vom segensreichen Vernunftgebrauch. Dieses sei lediglich eine der vielen Varianten, Macht zu erlangen, zu festigen und zu vergrößern. Postmoderne kritisiert die Moderne nicht einfach, sie verabschiedet sie. Kommt Vernunft nicht mehr die Funktion zu, Macht einzuschränken, ist sie ihrerseits nur Machtstrategie, dann, so Esfelds Folgerung, sind alle gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bloß Machtkämpfe von Gruppen. 

Entscheidend sei, dass das selbstbestimmte, eigenständig urteilende Individuum mit seiner theoretischen Beseitigung auch praktisch beseitigt werde. Der Titel des Buches spielt vielleicht auf die Aufforderung Kants an, den Mut zu haben, sich seines eigenen Verstandes (öffentlich) zu bedienen. Letzteres findet außer in Sonntagsreden immer weniger statt, denn die gesellschaftliche Entwicklung entmutigt im wahrsten Sinne des Wortes das mündige Subjekt. 

Urteilskraft, die im Prinzip jeder erwachsenen Person zu Gebote steht, wird verdrängt durch spezialisierte Vielwisserei staatlich berufener Expertengruppen, deren Wort absolutes Gesetz sein soll. Ohne Mitglieder aber, die eigenständig urteilen und frei handeln (dürfen), kann eine rechtstaatliche Ordnung, kann eine offene Gesellschaft nicht existieren. Deshalb ist jedes totalitäre Projekt bestrebt, individuelle Selbstbestimmung und damit jeden rechtlich garantierten Schutzraum des Privaten abzuschaffen. 

Das Resultat ist eine Wissenschaft, die nicht mehr mit disziplinierter Skepsis herauszufinden versucht, was der Fall ist, sondern bestimmt, was getan werden muss, sowie eine kollektivistische Rechtsordnung als verlängerter Arm der überbordenden Staatsmacht, die ihre Bürger mit zahlreichen Versorgungsleistungen zugleich ausraubt und gefügig macht. Müssen Menschenrechte durch Wohlverhalten „verdient“ werden, dann können sie das Individuum nicht mehr vor den Übergriffen des Kollektivs, des Staates schützen und verlieren ihren Sinn. An ihre Stelle tritt purer Gehorsam. 

Den Übergang zur „real existierenden Postmoderne“ datiert der Autor realgeschichtlich auf den 15. August 1971. An diesem Datum wurde die Bindung der nationalen Währungen durch feste Wechselkurse an den US-Dollar aufgehoben, der wiederum fest an den Goldwert gebunden war. Indem nun die Währungen nicht mehr an einen Sachwert gebunden waren, also keine objektive Grenze mehr fanden, konnte Kaufkraft aus dem Nichts erzeugt werden. Die Geldschöpfung wurde unbegrenzt. „Ohne die Möglichkeit für die Regierungen, beliebig Geld aus nichts zu schaffen, wären das Corona-und das Klimaregime schon längst an der Realität gescheitert.“ 

Wiederbelebung der Moderne

In einer faszinierenden „Zeitreise zu den geistesgeschichtlichen Grundlagen“ legt der Autor im zweiten Hauptkapitel dar, dass ergebnisoffene, weltanschaulich neutrale Wissenschaft und Rechtsstaat als „Säulen der Moderne“ untrennbar zusammengehören und alle vermeintlichen Alternativen immer in totalitäre Herrschaft münden. Die Lösung bestehe darin, die Moderne wiederzubeleben, damit „wir unsere Zukunft zurückgewinnen“. Das bedeutet freilich nicht, dass die Moderne in unveränderter Gestalt erneut inthronisiert werden soll. 

Durch kritische Diskussion der Geistes- und Realgeschichte gelangt Esfeld zu Einsichten, die es notwendig erscheinen lassen, einige Illusionen der Moderne aufzugeben. Als Grundproblem identifiziert er „die Machtballung in der Hand der staatlichen Zwangsgewalt.“ Dementsprechend schlägt er eine radikale Entstaatlichung auf allen relevanten Gebieten vor. Szientisten wird es besonders triggern, dass er sich ausgerechnet an Rudolf Steiner orientiert, den Gottseibeiuns aller, die sich für besonders aufgeklärt und wissenschaflich halten. 

Steiner plädiert für eine Dreigliederung des sozialen Lebens anhand der Leitmotive der Französischen Revolution. „Das Rechtsleben mit gleichem Recht für alle (Gleichheit), das arbeitsteilige Wirtschaftsleben (Brüderlichkeit) und das Geistesleben mit freiem Bildungssystem (Freiheit) sollen voneinander getrennt werden.“ Dieser Gliederung folgend fordert Esfeld eine „Rechtsfindung von unten“ nach dem Vorbild des angelsächsischen „common law“. Hier scheint sich der Autor dem anarchistischen Libertarismus anzuschließen, der Recht und Sicherheit ohne prinzipielles Monopol durch verschiedene Anbieter in freier Konkurrenz gewährleisten will. 

Ähnlich soll auch das Wirtschaftsleben organisiert werden. Mit „freiem Geld“ solle zum Beispiel die unsoziale Geldschöpfung aus dem Nichts verhindert werden, welche so typisch für die real existierende Postmoderne sei. Schließlich müsse auch das Bildungs- und Forschungssystem entflechtet und vom staatlichen Einfluss befreit werden. Wer dann zum Beispiel riskante Forschung betreiben wolle, müsse eine Versicherung gegen mögliche Schäden abschließen, also erst einmal eine Versicherung finden, die die Risken übernehme.

Manche Vorschläge mögen auf den ersten Blick kontraintuitiv wirken. Esfeld begründet sie jedoch außerordentlich gewissenhaft. Das ganze Buch ist aus einem Guss. Die ersten zwei Hauptkapitel führen logisch zielgenau zum dritten Kapitel mit den Lösungsvorschlägen. Im Lichte der beiden vorausgehenden Teile wirken letztere alles andere als abwegig oder zu radikal, sondern schlicht folgerichtig. Sie erscheinen als Bedingung der Möglichkeit dessen, was Karl Popper als „offene Gesellschaft“ bezeichnet hat: „verschiedene Lebensformen, Kulturen, Weltanschauungen, Religionen usw., die auf einem Gebiet miteinander zusammenleben und sich durch Austausch und Arbeitsteilung wechselseitig bereichern unter Respekt der Menschenrechte aller.“

Denn sie wissen, was sie tun sollen …

In diesem transzendentalen Sinne sollte man das dritte Hauptkapitel verstehen: Wenn wir eine offene Gesellschaft wollen, dann müssen die genannten Bedingungen erfüllt sein. Ganz am Schluss schreibt Esfeld: „Um dieses zu erreichen, sind drei Schritte wesentlich: Urteilskraft Stärken. Skepsis gegenüber Machtkonzentration und Aufbau vom Staat unabhängiger sozialer Gemeinschaften. Zivilcourage zeigen mit dem Mut zu freiem öffentlichen Gebrauch seines Verstandes.“ 

Sein Buch enthält also keine detaillierte Handlungsanweisung, wie diese Ziele konkret erreicht werden können. Es kann aber allen Unzufriedenen exakt mitteilen, wofür und warum sie kämpfen sollten, wenn sie denn kämpfen wollen.

Klaus Alfs ist ausgebildeter Landwirt und Soziologe. Er arbeitet als freiberuflicher Autor und Lektor in Berlin. 

Esfeld, Land ohne Mut

Michael Esfeld
Land ohne Mut
Achgut Edition 
Berlin 2023

Gebunden 24,00,- Euro
eBook 12,00,- Euro

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