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Von Flüchtlingen und Freigeistern in Paraguay
Auswandern

Von Flüchtlingen und Freigeistern in Paraguay

Seit 2020 beschließen immer mehr Menschen, Deutschland den Rücken zu kehren, um in Südamerika den Neustart zu wagen. Sie sind auf der Suche nach einem freiheitlichen und selbstbestimmten Leben, für das sie in Europa keine Zukunft sehen. Gelingt ihnen das? Mutige Mütter und Väter berichten von den Chancen und Herausforderungen beim Auswandern. Eine Reise in den globalen Süden.

Als Deutscher in Paraguay kommt man nicht um Szenerien umhin, in denen das Aufeinanderprallen von Kulturen bisweilen eine surreale Komik erzeugt. Da steht man auf einmal, in einem fremden Land an einem deutschen Essensstand, eine Currywurst mampfend, während Motorräder nicht gerade verkehrskonform an einem vorbeirasen. Oder man sitzt bei einem Maß Bier unter Mangobäumen und im Hintergrund tönt Helene Fischer durch die schwüle Luft. Dann könnte man im Abendrausch fast vergessen lassen, dass man sich auf der anderen Seite des Ozeans befindet. Aber nur fast. Denn verlässt man den Biergarten, hört man wieder nur Menschen in einer seltsamen Sprache reden, ein Gemisch aus verwaschenem Spanisch und guaranischem Singsang. Und spätestens wenn man von dem 600 Meter hohen Cerro Akatĩ auf einen großen, grünen Teich hinunterblickt, weiß man: Das hier ist nicht der Schwarzwald. Das ist Paraguay, ein fremdes, mystisches Land. 

Mbocayaty (Guaraní: „Dort wo die Kokospalmen wachsen“), heißt die gemütliche Ortschaft nahe der Stadt Villarica, an der Familie L. aus Nordrhein-Westfalen nach strapaziöser Reise gelandet ist. Den Kopf in die Hände gestützt, sitzt Familienvater Martin L. im Schatten des Pavillons einer aparten paraguayischen Ferienanlage. Keine Wolke steht am Himmel, im Gras liegen reife Zitrusfrüchte. Sein Blick schweift nachdenklich in die Ferne. Neben ihm sind seine Frau Julia und die beiden Kinder von neu und elf Jahren.

Alle wirken etwas verloren, so kurz nach ihrer Ankunft in Paraguay im August 2022. Von einem auf den anderen Tag so alles zurückzulassen, die Verwandten, die Freunde, das Haus. „Wir sind seit langem wieder Deutsche, die aus der eigenen Heimat vertrieben wurden“, denkt Martin laut, während er eine Mandarine schält. Die drakonischen Corona-Maßnahmen waren der Auslöser für ihren Entschluss, die Zelte in Deutschland abzubrechen. Staatliche Unterdrückung, Verfolgung Andersdenkender, das Verlorengehen von christlichen Werten, Jobverlust und Kindesmisshandlung durch absurde Testmaßnahmen an der Schule ließen die Eltern aktiv werden. „Wir haben die Hoffnung, hier mehr Freiheit zu finden und vor allem unsere Kinder zu schützen“, erklärt Martin und seufzt. Er ist besorgt angesichts der Herausforderungen, die jetzt auf sie zukommen. Ein Job muss gefunden werden, ebenso ein passender Wohnsitz. Doch da blitzt auch eine große Entschlossenheit aus seinem Blick, die sagt: Wir werden das schaffen.

Die Geschichte von Julia und Martin ist nur eine von vielen Familiengeschichten, die durch Corona eine entscheidende Wendung genommen hat. Seit 2020 steigt die Anzahl der vergebenen Aufenthaltsgenehmigungen an deutsche Staatsbürger in Paraguay rasant, viele Medien berichten von einer neuen „Einwanderungswelle“ (Quelle in Spanisch).

Günstige Bedingungen

Es sind vor allem Familien mit Kindern und Paare, die den großen Sprung wagen und sich an den beliebten Orten Villarica, Hohenau, Encarnación oder San Bernadino niederlassen. Sie haben eines gemeinsam: Den Traum vom neuen, selbstbestimmten Leben fern von staatlicher Bevormundung. Dass ihre Wahl gerade auf Paraguay fällt, hat gute Gründe. Attraktiv machen das südamerikanische Land seine großen Landflächen, das warme Klima, die niedrigen Lebenshaltungskosten und lockeren Einwanderungsbestimmungen, außenpolitische Zurückhaltung und Informalität. Dazu kommt, dass deutsche Kultur und Infrastrukturen aufgrund der Immigration im 19. Jahrhundert vielerorts präsent sind. Bis heute bilden Deutsche die größte Einwanderungsgruppe. Deutsche Gewerbebetriebe, Schulen und bekannte Produkte im Supermarkt, all das reduziert das Gefühl des Fremdseins und bietet Anknüpfungspunkte.

Deutscher Essensstand in der Kolonie Independencia in Paraguay. Foto: Ronja Palmer

Trotzdem laufen heiße Diskussionen in den unzähligen Telegram-Gruppen rund ums Thema Auswandern. Aber Tatsache bleibt: Wie schwierig oder leicht der Neustart ist, hängt von individuellen Faktoren ab, von den finanziellen Mitteln, Spanischkenntnissen und nicht zuletzt von der eigenen Anpassungsfähigkeit. Eine Portion Abenteuerlust und Bereitschaft, die eigene Komfortzone zu verlassen, sind unerlässlich – sonst führt der erste Stromausfall nach monsunartigem Regenguss gleich zum Rückflug.

Kein Problem für Familie O. aus Sachsen, deren Erwartungen in Paraguay sogar übertroffen wurden.

Wir fanden mehr Freiheit, als wir gesucht haben.“

So reflektiert Cristiane O., die im August 2021 mit ihrem Partner Markus als Patchworkfamilie mit ihren drei Kindern auswanderte. Am Stadtrand von Villarica fanden die fünf ein kleines Haus am Hof deutscher Altkolonisten und sind sehr zufrieden mit ihrer neuen Lebenssituation. Von ihrer Terrasse mitten im Grünen zeigen sie stolz ihre neue Backstein-Außenküche. „Für mich war es nie eine Flucht, sondern ein Ankommen“, sagt Christiane und wippt ihr Baby sanft auf dem Schoß. Sie sieht die Auswanderer nicht primär als Flüchtlinge, sondern vor allem als Visionäre und Freigeister. Auch Markus ist froh über die Entscheidung. In Deutschland gehe leider die Herzlichkeit zunehmend verloren, findet der ehemalige Unternehmer. Außerdem hätten ihn das materialistische Denken und die extreme Bürokratie gestört. „Hier in Paraguay hat der Staat weniger zu sagen“, meint er und erklärt: „Die Mehrheit lebt hier noch in Großfamilien. Die soziale Anbindung macht die Menschen weniger angreifbar für mediale Propaganda, es gibt eine natürliche Skepsis gegen staatliche Vorschriften. Das zeigt auch die niedrige Impfquote.“

Soziale Netzwerke …

… sind in Paraguay der Schlüssel zur Unabhängigkeit. Beziehungen gehen über alles, wenn man Unterstützung bei den kleinen und großen Hürden des Alltags braucht, sei es zu Einheimischen oder anderen Auswanderern. Die findet man zum Beispiel in der deutschen Kolonie Independencia, deren Name Programm ist. Im Zentrum der guaíranischen Berge gelegen, bildet der Ort quasi eine Oase für alle, die einfach ihr eigenes Ding machen wollen. Man findet hier alles, was man braucht. Deutsche Restaurants und Läden, einen Handwerkermarkt mit lokalen Produkten, Stammtische, Workshops und diverse kulturelle Veranstaltungen. Auch das Oktoberfest wird zelebriert und wurde zur alljährlichen Pilgerfahrt für zehntausende „Paraguayos“. Und Corona-Maßnahmen waren in Independencia nie Thema.

„Fühlen uns willkommen“

Man könne nur den Kopf schütteln, wenn deutsche Leitmedien von angeblichen „Impfgegnern“ berichten, die bei den Paraguayern auf Ablehnung stießen. „Ganz im Gegenteil. Wir Deutschen sind sogar sehr beliebt, weil wir praktisches Wissen und Kapital ins Land bringen“, erzählt Markus. Die allermeisten Einwanderer berichten, dass sie große Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft von Einheimischen erfahren. Zwischenmenschlichkeit hat einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert und macht keinen Halt vor Nationalität und erst recht nicht vorm Impfstatus. Freundliche Begegnungen mit Nachbarn am Gemüsestand oder in der Autowerkstatt bestätigen das täglich aufs Neue. Obwohl man sich nicht kennt, wird einem sofort geholfen, wenn Not am Mann ist. Und kommuniziert wird im Zweifelsfall auch mit Händen und Füßen.

Und wie geht es inzwischen der Familie L. aus Nordrhein-Westfalen heute, im Februar 2023? Martins und Julias Stimmen klingen durchs Telefon. Sie erzählen mir glücklich von ihrem neuen Zuhause im paraguayischen Chaco. „Unsere Gebete wurden erhört“, so Martin. Er hat Arbeit in einem Elektrobetrieb gefunden, und die Familie steht kurz davor, ein passendes Grundstück am Stadtrand von Filadelfia zu kaufen. Die deutsche Mennonitenschule hat die Kinder mit offenen Armen empfangen. Julia fühlt, dass sie hier „am richtigen Platz sind“ und staunt selbst über die vielen herzlichen Begegnungen in so kurzer Zeit. Obwohl noch einige Hürden zu meistern sind, ist die Familie zuversichtlich. Sie sind bestimmt nicht die letzten, die in Deutschland Leine ziehen, um weit unten im Süden neue Wurzeln zu schlagen.

Ronja Palmer ist Sozial- und Kulturanthropologin mit Fokus auf Lateinamerika. Sie ist in Karlsruhe geboren und lebte unter anderem in Berlin und Buenos Aires.

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