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Das widerspenstige Dorf
Selbstbestimmt leben

Das widerspenstige Dorf

Immer mehr Menschen schließen sich zu sogenannten „Gallischen Dörfern“ zusammen. Sie setzen auf Regionalversorgung, Nachbarschaftshilfe und schmieden gemeinsam Pläne für den Notfall. Ein Ausflug nach Sachsen.

Wir sitzen im Wohnzimmer in der ersten Etage eines Einfamilienhauses mit weitem Blick über ein breites Tal, in dessen Mitte der Fluss zu erahnen ist. Den Vormittag hindurch hat es geregnet, doch inzwischen dringt zwischen den grauen Wolken die Sonne durch und zaubert leuchtende Farben in die Landschaft. Vereinzelt steigen Nebelschwaden auf. „Wir brauchen keinen Staat und auch keine Grenzen. Aber wie wir schließlich dahin kommen, wird die Zeit erst zeigen“, erklärt Susanne Müller (Name von der Redaktion anonymisiert). Meine Gesprächspartnerin ist Mitte 50, adrett gekleidet, mit langen grauen Haaren und ihre braunen Augen blitzen voll Energie. Im Erdgeschoß befindet sich ihr kleiner Laden mit all den Dingen, wegen deren es sich nicht lohnt, schnell nochmal zum Discounter zu fahren. Hier befindet sich auch die Poststelle des Dorfes, die in den vergangenen zweieinhalb Jahren zum Umschlagplatz und Treffpunkt für den kritischen Austausch geworden ist.

Müller erzählt, dass alles damit anfing, dass sie die Wochenzeitung „Demokratischer Widerstand“ verteilte. Auf den Demonstrationen gegen die Einschränkung der Grundrechte trafen sie und ihr Mann dann weitere Menschen, die „dieses Spiel nicht mehr mitmachen wollen“. Sie kamen ins Reden, bildeten Fahrgemeinschaften nach Berlin zu den großen Demonstrationen im August 2020 und merkten aber nach einiger Zeit, dass sie „nicht einfach nur dagegen sein“ wollten. „Denn das ist unsere Welt, und wir konzentrieren uns darauf, wo wir hinwollen.“

In ganz Sachsen, von Görlitz bis zum Westerzgebirge, haben sich seit 2020 einzelne Menschen, Paare und Familien zu regionalen Initiativen zusammengeschlossen. Es handelt sich dabei um keine eingetragenen Vereine, und auch eine Internetrecherche führt zu keinen konkreten Resultaten. Denn die Mitgliederlisten befinden sich meist nur auf lokalen Servern oder auf Computern, die nicht mit dem Internet verbunden sind. Manche Gruppen zeichnen selbst Landkarten und tragen darauf aber nur Codenamen ein – zu groß ist die Angst vor Repressalien durch den Staat und vor dem Verlust von Kunden. Zwischen den einzelnen Gemeinschaften herrscht bundesweit aber ein reger Wissensaustausch und es finden überregionale Vernetzungstreffen statt.

Durch Selbstermächtigung auf Angstmache reagieren …

… so lässt sich die Anfangsmotivation der Gemeinschaft hier in diesem Ort am Rande einer größeren Stadt zusammenfassen. Die Mitglieder treffen sich konsequent jede Woche. Mit dabei sind unter anderen ein Tierarzt, ein Unternehmensberater, mehrere Köche, Buchhalter, Arbeiter, ein pensionierter Unternehmer, Pädagogen, ein Pfarrer mit Ehefrau, drei EDV-Fachleute, Physiotherapeuten und Beamte aus Staatsministerien. Anfangs fanden die Zusammenkünfte immer im selben Haus statt. Doch seit im Lockdown den Nachbarn auffiel, dass regelmäßig so viele Autos davor parkten, wird der Treffpunkt stets gewechselt. Und mit der Zeit kristallisierten sich weitere Regeln heraus: Handys bleiben zu Hause, aufgenommen wird nur, wer von einem anderen Mitglied persönlich eingeladen wird. Es dürfen maximal 100 Menschen sein, darüber hinaus muss sich eine neue Gemeinschaft gründen. Der Zulauf ist groß, und so haben sich allein in der nächsten Umgebung bereits vier Gruppen gebildet, im Großraum sind es zehn bis 15 Gemeinschaften.

Konkrete Ziele sind die Selbstversorgung mit regionalen Lebensmitteln, Sicherstellen von Dienstleistungen vor Ort, Hilfestellung bei Gartenarbeiten, Behördenkram oder Reparaturen sowie der Schutz im Notfall. Gemeinsam wird versucht, Vorkehrungen für die jeweiligen Befürchtungen zu treffen, die seit 2020 durch Politik und Medien geschürt werden, wie zum Beispiel Versorgungsengpässe durch einen Zusammenbruch der Lieferketten, etwaige Zutrittsverbote zu Supermärkten für Maskenlose oder Ungeimpfte und im Herbst ’22 kam noch der mögliche Ausfall von Gas, Wasser und Strom dazu. Aber auch die Lebensfreude soll nicht zu kurz kommen, und so feiert die Gruppe Sommer- und Herbstfeste oder unternimmt gemeinsame Freizeitaktivitäten.

Mehr Schutz dank Gemüsebunker

Schnell unterteilte sich die Gemeinschaft in Arbeitsgruppen, die einzelne Themen voranbringen. Die Strategiegruppe zum Beispiel rechnet mit dem Schlimmsten und trifft Vorkehrungen für den Notfall. Die 100 Mitglieder wollen sich auf fünf Einfamilienhäuser aufteilen – so der Plan. Alle bringen ihre Vorräte mit. Notstromaggregate und Trockentoiletten stehen bereit. Falls die nächsten Nachbarn, die nicht zur Gruppe gehören, selbst nicht vorgesorgt haben, ist vorgesehen, sie trotzdem zu unterstützen, da man sich zusammen mit ihnen vor Plünderern schützen will. Zur Gemeinschaft gehören auch ein aktiver Polizeibeamter und ein weiteres Mitglied war vier Jahrzehnte beim Militär – die beiden bringen ihr Selbstverteidigungs-Kowhow ein. Zwischen den einzelnen Zufluchtsorten soll die Kommunikation über Funkgeräte stattfinden – etwa wenn es einen Krankheitsfall gibt. Die Funkgruppe arbeitet inzwischen am Ausbau der überregionalen Kommunikation.

Mit dabei ist auch der Besitzer der lokalen Gärtnerei. Er stellt der Initiative mehrere Tausend Quadratmeter für den Gemüseanbau und den Platz für zwei Gewächshäuser kostenlos zur Verfügung. Nur das Wasser zur Bewässerung muss bezahlt werden. Das neueste gemeinsame Bauwerk ist der Gemüsebunker, in dem die diesjährige Ernte eingelagert wird. Wir spazieren an Reihen mit frischen Zwiebeln, Grünkohl, Mangold und Pak Choi vorbei. Was wann angebaut werden muss, hat die Arbeitsgruppe Selbstversorgung geplant. In einem Gewächshaus befindet sich auch die Sommerküche, hier wird gemeinsam eingekocht beziehungsweise bei den Festen für das leibliche Wohl gesorgt.

Um als Gruppe zusammenzufinden wird aber nicht nur gefeiert, sondern es werden auch neue Kommunikationsmodelle ausprobiert, derzeit sogenannte Redekreise. Dafür stellen sich alle Anwesenden in einem großen Kreis auf. Diejenigen, die zu dem Thema, das erörtert werden soll, etwas einbringen können, treten in die Mitte und bilden den kleineren eigentlichen Gesprächskreis. Wer jeweils etwas sagen möchte, nimmt sich den Redestab. Beim Redekreis geht es darum, Kompetenz zu bündeln und so das endlose Zerreden von Themen zu vermeiden.

Etwas, das die Welt braucht

„So etwas wie ’89 lassen wir nicht noch einmal mit uns machen“, erklärt Ulrich Schmidt (Name von der Redaktion anonymisiert) und spricht von der „echten Wende“, die sich jetzt vollziehe. Durch seine Initiative kam schließlich diese Reportage zustande. Denn der Mittfünfziger möchte, „diesen Geist der Selbstbestimmung nicht nur leben, sondern auch weitergeben“, damit mehr Menschen sich zusammenschließen. Einige seiner Mitstreiter versuchen, lieber unter dem Radar zu bleiben, „sie sind in der Angst, obwohl wir nichts Verbotenes tun“, sagt Schmidt.

Dem ehemaligen Unternehmer ist es wichtig, „etwas zu machen, was die Welt braucht, das sinnvoll ist“. Die Hälfte seiner Arbeitszeit bringt er daher in die Gruppe ein, die restliche Zeit unterstützt er seine Frau, die Geschäftsinhaberin ist. Die beiden bewohnen ein neu renoviertes Einfamilienhaus. Es ist hell und geschmackvoll eingerichtet und von einem großen gepflegten Garten umgeben. Vom Küchenfenster aus ist ein überdeckter Pool zu sehen. Doch wir können nicht lange sitzen bleiben. Denn heute ist der Tag, an dem die Ziegenprodukte von der Zwischenstation abgeholt werden müssen. Da der Bauernhof weiter weg liegt, bringt der Landwirt die Bestellungen der Gruppe zu einem Bauernladen, der auf halber Strecke liegt. Wir treffen ihn vor dem kleinen Markt und räumen Ziegenfrischkäse, Joghurt und Quark von seinen Kühltaschen in unsere um. Schmidt wird die Produkte dann in kleine Tüten aufteilen und sie zum Umschlagplatz bringen.

In der Poststelle, dem Umschlagplatz, von Susanne Müller ist einmal pro Woche „Markttag“. Die Gruppenmitglieder holen sich ihre Bestellungen ab. Listen liegen bereit und jeder trägt ein, was er oder sie beim nächsten Mal haben möchte. Die meisten machen von der analogen Bestellmöglichkeit gebrauch, kaum einer bestellt per E-Mail. Die Gruppenmitglieder genießen es, in ungezwungener Atmosphäre zusammenzukommen und sich mit Gleichgesinnten auszutauschen. Im Hinterzimmer des Ladens steht ein großer Tisch für ein längeres Schwätzchen bereit. Denn seit den 90ern gibt es in dem Ort keine einzige Kneipe oder Café mehr.

Auf die Frage, was sie anders machen würden, wenn sie mit ihrer Initiative neu beginnen könnten, antwortet Müller, dass sie gleich von Anfang an, feste Regeln aufstellen würde. „So hätten wir uns das mühsame Ausverhandeln erspart. Und neuen Gruppen möchte sie mitgeben, sich verlässlich an einem Tag pro Woche analog zu treffen und dranzubleiben. „Und auch wenn wir uns jetzt in kleinere Einheiten aufteilen“, ergänzt Schmidt, „so sind wir wie kleine Bäche, die sich schließlich treffen und zu einem breiten, kräftigen Fluss vereinigen“.

Erstveröffentlichung in der Zeitschrift ViER.

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