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Waren die Märzgefallenen Patrioten?
Rumen Milkow

Waren die Märzgefallenen Patrioten?

Foto: Georgi Alexejew unterhält sich mit Demonstranten. Foto: Rumen Milkow

Am 18. März gingen vor 175 Jahren Menschen in Berlin auch für die Meinungs- und Redefreiheit auf die Straße. Die, die dabei zu Tode kamen, haben auf dem „Friedhof der Märzgefallenen“ im Volkspark Friedrichshain ihre letzte Ruhe gefunden.

Laut BZ wird in diesem Jahr der 18. März in Berlin „gefeiert wie noch nie“. Das scheint auch nötig zu sein, denn immer weniger Menschen in Deutschland glauben, ihre Meinung noch frei aussprechen zu dürfen. Laut einer MDR Umfrage vom Dezember vergangenen Jahres, hat jeder zweite Deutsche Hemmungen, seine Meinung zu sagen.

Ich selbst bin 1989, also vor jetzt 34 Jahren, deswegen auf die Straße gegangen. Heute erkenne ich, nicht nur wenn es um die Meinungsfreiheit geht, mein Land nicht wieder. Auch deswegen habe ich Berlin Richtung Balkan verlassen. Meine Erfahrung nach zwei Jahren in Bulgarien, dem Herkunftsland meines Vaters, ist die, dass nicht nur das Meinungsspektrum bei der Berichterstattung in den Medien hier ein anderes ist, sondern auch der Meinungspluralismus innerhalb der Bevölkerung.

Nicht nur Begriffe wie „Friedensschwurbler“ und „Lumpenpazifisten“ sind hier unbekannt, wie ich bereits an dieser Stelle schrieb, sondern auch „Aluhut“ und „Querdenker“. Als Hörer des staatlichen bulgarischen Nationalradio „Christo Botew“ werde ich nicht darüber belehrt, welche Partei angeblich „nationalistisch“ oder gar „ultranationalistisch“ sei, wie dies in Deutschland an der Tagesordnung ist.

Berichten deutsche Medien über Bulgarien, was leider nur selten geschieht, so wird beispielsweise die Partei „Wiedergeburt“ immer als „nationalistisch“, wenn nicht gar „ultranationalistisch“ bezeichnet. Wird in Bulgarien Kostadin Kostadinow, der Chef der Partei „Wiedergeburt“, vom Radio oder im Fernsehen interviewt, was häufig vorkommt, so ist dies ein ganz normales Interview. Die Zuschauer und Zuhörer werden nicht darüber belehrt, was „Wiedergeburt“ für eine Partei sei. Man traut dem Publikum in Bulgarien zu, sich selbst eine Meinung bilden zu können. In Deutschland ein Unding – leider.

Der frühere Bundespräsident Johannes Rau sagte am 9. November 2000 in einer Ansprache vor dem Brandenburger Tor folgendes: „Ein Patriot ist jemand, der sein Vaterland liebt, ein Nationalist ist jemand, der die Vaterländer der anderen verachtet.“ Die bulgarische Partei „Wiedergeburt“ ist zweifellos „nationalistisch“, allerdings im Sinne von „patriotisch“. Dass dies von den Medien in Deutschland nicht begriffen wird, ist tragisch. Denn bereits im Jahr 2000 warnte Rau genau davor: „Wir dürfen Patriotismus niemals mit Nationalismus verwechseln.“ – Waren die Märzgefallenen, die heute in Berlin „gefeiert wie noch nie“ werden, am Ende nicht auch alle Patrioten?

Polizei-Chef mischt sich unter Demonstranten

Seit ich in Bulgarien bin, war ich auf vielen Demonstrationen, meist waren sie von der Partei „Wiedergurt“ organisiert. Zu Ausschreitungen oder Festnahmen ist es dabei nie gekommen. Ich habe sowohl für Multipolar als auch für den Rubikon darüber berichtet. Den obersten für die Sicherheit der bulgarischen Regierung zuständigen Polizisten kenne ich mittlerweile persönlich. Sein Name ist Georgi Alexejew. Sein Markenzeichen ist, sich unter die Demonstranten zu mischen, mit ihnen zu sprechen, die sich dabei kein Blatt vor dem Mund nehmen. Insbesondere in Berlin undenkbar.

In Bulgarien redet man miteinander und nicht übereinander. Auch wenn die Menschen unterschiedlicher Meinung sind, was normal ist – alles andere wäre auffällig – ist der andere immer noch Freund, Bekannter oder Nachbar. Lange habe ich mich gefragt, wie das sein kann, warum es so anders ist als in Deutschland. In dem Interview (ab 31:17), das Sibila Tasheva*, Autorin von „111 Gründe Bulgarien zu lieben“, im Sommer 2022 mit dem bulgarische Arzt Dr. Marin Guentchev** führte, habe ich meine Beobachtung, dass man in Bulgarien alles sagen darf, nicht nur bestätigt gefunden, sondern auch eine mögliche Erklärung dafür, warum das so ist, und wofür es gut ist:

„Eine der großen Talente der Bulgaren ist, eine Tyrannei zu erkennen und sich dagegen zu wehren, passiv, aber trotzdem sich zu wehren. Das hängt vielleicht auch mit der türkischen, der osmanischen Okkupation von Bulgarien zusammen, ich weiß es nicht. Aber prinzipiell erkennt der Bulgare eine Tyrannei sehr schnell, vielleicht auch unterbewusst. Und deswegen sind wir Bulgaren eigentlich sehr freiheitsliebende Menschen, das gefällt mir. Das hat mir auch ein Österreicher gesagt: ‚Ich hab das Gefühl, wenn ich nach Bulgarien komme, ich kann ALLES sagen.’ Das hat so geklungen, als könne er dort nicht alles sagen, und das stimmt auch. Und das ist etwas, was man in Bulgarien lernen kann: diese Liebe zur Freiheit und zur Meinungsäußerung. Natürlich, wenn Sie kommen, hören Sie jeden möglichen Blödsinn, von Konspirationstheorien bis alles Mögliche, also alles Mögliche. Und manchmal hat man das Gefühl, diese Meinungsfreiheit, die es in Bulgarien gibt, die geht mir ein bisschen zu weit, die geht mir manchmal furchtbar auf den Wecker. Und dann denke ich mir: Ist besser so, als das Gegenteil. Alle haben die gleiche Meinung, keiner traut sich irgendwas zu sagen und alle marschieren in die Richtung, in der wir nicht sein wollen. Das ist auf jeden Fall etwas, was man in Bulgarien lernen kann.“

Dem ist an sich nichts hinzuzufügen, außer vielleicht, dass es sich im ersten Moment verrückt anhören mag, ausgerechnet vom Balkan etwas lernen zu können. Meine Erfahrung nach 25 Jahren als Berliner Taxifahrer ist, dass man von jedem Menschen etwas lernen kann. Dazu muss man anderen aber zuhören, und zwar ohne sie sogleich zu beurteilen oder gar zu verurteilen. Vor allem darf man sie nicht zuvor in eine Schublade gesteckt haben, was in Deutschland leider seit Jahren immer mehr geschieht. Und was am Ende auch dazu führt, dass immer weniger Bürger sich trauen ihre Meinung zu sagen.

* Sibila Tasheva ist Juristin, sie hat in München studiert und leitet ein eigenes Reisebüro „TACT“ (Take A Chance To Travel“), das individuelle Reisen durch Bulgarien organisiert.

** Dr. Marin Guentchev ist Neuochirurg, hat in Wien Medizin studiert, war Privatdozent in Heidelberg und leitet seit 2015 das „Trinity Medical Center“ in Sofia.

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