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Warum ukrainische Kinder nach Russland kamen – „Kinderräuberin“ gibt Antworten
Kriegsverbrechen

Warum ukrainische Kinder nach Russland kamen – „Kinderräuberin“ gibt Antworten

Kindesentführung und gar Genozid – das wird Russlands Präsident Wladimir Putin vorgeworfen. Auch die russische Kinderbeauftragte Marija Lwowa-Belowa wird dessen beschuldigt und deshalb wie Putin vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt. In einem Interview mit einer Schweizer Wochenzeitung hat sie nun zu den Vorwürfen und der Anklage Stellung genommen.

„Ich wurde innerhalb von zwei Stunden weltweit bekannt“, erzählt Marija Lwowa-Belowa im Interview mit der Schweizer Wochenzeitung Die Weltwoche. „Man bezeichnete mich als Frau, die einen Genozid organisiert.“ Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wirft ihr vor, Kinder aus der Ukraine den Eltern zu entreißen und nach Russland zu verschleppen.

Marija Lwowa-Belowa ist die Kinderrechtsbeauftrage der Russischen Föderation. Im Interview mit Die Weltwoche, veröffentlicht in der aktuellen Ausgabe, äußert sie sich zu den Anschuldigungen. Diese seien „wirklich absurd, jenseits jeder Wirklichkeit“, sagt sie. „Wir machen das Gegenteil: Wir retten Kinder aus dem Geschosshagel der ukrainischen Artillerie. Was erwartet man von uns? Dass wir diese Kinder, die heute auf russischem Gebiet sind, einfach sterben lassen?“

Am 17. März 2023 hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag einen Haftbefehl gegen Russlands Präsident Wladimir Putin und dessen Kinder-Ombudsfrau Marija Lwowa-Belowa erlassen. Beiden werden „Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Deportation der Bevölkerung aus den besetzten Gebieten der Ukraine in die Russische Föderation“ vorgeworfen. Doch Russland erkennt das Haager Gericht nicht an. Deshalb sei dieser Haftbefehl für sie „null und nichtig“, sagt die Kinderrechtbeauftragte.

Westliche Arroganz

„Wir verstehen leider nicht, was man uns genau vorwirft“, erklärt sie. Es sei alles sehr verschwommen formuliert: „highly likely“, „probably“. Ihre Information beziehe sie aus den Medien. Eine Anklageschrift habe sie nicht bekommen, die Haager Ankläger hätten ihr nicht die Möglichkeit gegeben, ihre Sicht darzustellen. Sie habe es versucht, ihren Standpunkt wenigstens bei der UNO darzustellen, so die Ombudsfrau. Aber „die Delegierten der westlichen Länder wollten gar nichts wissen“, sagt sie gegenüber Die Weltwoche. Als sie im UNO-Sicherheitsrat zu reden begann, hätten einige Delegationen gleich den Saal verlassen. Auch im Internet sei ihre Präsentation nicht ausgestrahlt worden.

Die Weltöffentlichkeit sollte nicht erfahren, was sie zu sagen habe, vermutet Lwowa-Belowa. Viele Delegationen seien erst in den Saal zurückgekommen, als sie ihren Vortrag beendet hatte. „Und dann sagten alle dasselbe: Wir würden Kinder deportieren, in Umerziehungslager stecken, sie illegal zur Adoption freigeben – ohne auch nur einen einzigen Beweis dafür vorzulegen.“ Denn im Westen gelte nur eine Sicht: „Russland ist der Aggressor, Russland ist böse, Russland ist der große Verbrecher“, sagt die Mutter von zehn Kindern und Ehefrau eines orthodoxen Priesters.

Die meisten Kinder aus der Ukraine kamen laut Lwowa-Belowa mit den Eltern freiwillig nach Russland. Die Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht wurden, hatten in Waisenheimen in den Volksrepubliken Lugansk und Donezk gelebt, die nicht mehr zur Ukraine gehören. Diese Kinder hätten keine Eltern in der Nähe. „Jetzt, da sie in Sicherheit sind, wird uns vorgeworfen, wir hätten sie gewaltsam verschleppt.“ Russland habe die Kinder auf Bitte von Lugansk und Donezk aufgenommen.

Erschwerte Rückkehr

Die Weltwoche fragt die Kinder-Ombudsfrau nach den sogenannten Sommercamps – laut einem Bericht der Yale Universität „eine Art Ferien-Zwangslager“. Diese Art der Feriengestaltung für Kinder werde in Russland seit mehr als hundert Jahren praktiziert, so ihre Antwort. „Das sind keine Gefängnisse, keine KZ, Lager oder geschlossene Einrichtungen, wo man ohne Kontakt zur Außenwelt erzogen, umerzogen wird.“

Sie erklärt, warum die ukrainischen Kinder länger als geplant in den Camps geblieben seien: Kinder aus den Gebieten Saporischschja und Cherson verbrachten mit Erlaubnis der Eltern ihre Sommerferien auf der Krim und in der Region Krasnodar, in Südrussland. Dann veränderte sich der Frontverlauf und ein Teil der Eltern ist auf ukrainischem Gebiet geblieben. Das habe die Rückgabe der Kinder erschwert: Wehrpflichtige Väter durften das Land nicht verlassen, außerdem gab die Ukraine den Eltern keine Möglichkeit, die russischen Behörden zu kontaktieren.  Vielen wurde sogar Kollaboration mit dem Feind vorgeworfen.

Die Kinder konnten laut Lwowa-Belowa die Eltern jederzeit via Smartphones kontaktieren und es gab Betreuer, die eine Vollmacht von den Eltern hatten. Von Oktober bis Januar konnten über 2.000 Kinder zu ihren Eltern zurückkehren. „Wir haben uns im Januar eingeschaltet, als es noch 400 solcher Kinder auf der russischen Seite gab.“

Heute gebe es in der Region Krasnodar keine Kinder mehr, die auf eine Rückführung warten. Auf der Krim seien noch sechs geblieben, weil ihre Eltern die Ukraine verlassen hätten. „Wir haben alle Informationen über zwei Kinder an das Internationale Komitee von Roten Kreuz geliefert, damit es uns hilft, diese Familien zu vereinigen.“

Wichtiger Unterschied

Insgesamt konnten nach ihren Angaben 730.000 Kinder aus dem hartumkämpften Kriegsgebiet in Sicherheit gebracht werden – die allermeisten mit ihren Eltern. 2.000 Kinder stammen aus Internaten und Heimen, sie wurden von Erziehern und Betreuern begleitet. 380 Kinder wurden in russischen Familien untergebracht, weil sie es so gewollt hatten. Die restlichen Kinder brauchen Pflege und wurden auf Krankenhäuser verteilt.

Aus Kiew wurde erklärt, Russland würde in den Camps die nationale Identität ukrainischer Kinder auslöschen – einen „kulturellen Genozid“ verüben. Dazu sagt Lwowa-Belowa der Schweizer Wochenzeitung, das sei Propaganda. Das seien gewöhnliche Ferienlager, betont sie. „Ja, am Morgen wird die russische Flagge gehisst und die Hymne gesungen. Das war in diesen Camps immer so. Aber Russland ist ein multinationales Land. Wir haben alle Völker, die in Russland leben, stets mit Respekt behandelt. Die Ukrainer handhaben es anders.“

Die zehnfache Mutter erzählt, sie habe einen Jungen aus Mariupol als Pflegekind in ihre Familie aufgenommen. Sie wisse, wie dort unter Kiewer Kontrolle alles Russische – Sprache, Kultur, Geschichte – ausgemerzt wurde. Doch „wir wollen uns ein Brudervolk nicht zum Feind machen“, so die Kinderbeauftragte. Russland sei grundsätzlich offen. „Wer in den Westen fahren will, soll das tun, bitte. Wer in der Ukraine leben will, kein Problem.“ Viele ukrainische Familien hätten in Russland humanitäre Hilfe bekommen und seien dann weitergefahren nach Polen, Georgien.

Größtes Missverständnis

Die Berichterstattung im Westen zeichnet laut Die Weltwoche ein ganz anderes Bild: Albtraumszenarien mit brutalen russischen Soldaten, die schreienden Müttern ihre Kinder aus den Armen reißen, um sie in totalitären Konzentrationslagern zu russischen Robotern umzuprogrammieren. Die westliche Berichterstattung sei geprägt von der ukrainischen Propaganda, so Lwowa-Belowa. „Sie wollen uns als Monster darstellen, um noch mehr Waffen vom Westen zu bekommen.“ Und: „Glauben sie nicht alles, was die Ukrainer erzählen.“ Gleichzeitig „wissen wir, dass immer mehr Bürger in EU-Ländern die Propaganda ihrer Regierungen durchschauen“.

Das größte Missverständnis über Russland sei: Es fehle einfach der Wille, die Situation unvoreingenommen zu betrachten. Man habe sich entschieden, in Russland den Feind zu sehen. Der gesunde Menschenverstand bleibe auf der Strecke. „Man redet nicht mal mehr mit uns. Wir haben bei internationalen Medien unsere Kontakte hinterlassen. Wir wollen die Menschen, die nach ihren Kindern suchen, helfen.“ Die Medien interessiere das nicht, so Lwowa-Belowa. Es gebe keine Anfragen.

Sie selbst sei zwar wegen der Anklage aus Den Haag über Nacht weltberühmt geworden. Aber danach gefragt, ob sie schon viele Interviews gegeben habe, sagt sie: „Keine“. Es habe bis jetzt keine Anfragen gegeben, so die nach Auffassung Den Haags und den meisten westlichen Zeitungen gefährlichste Frau der Welt. Allerdings seien schon viele Artikel über sie geschrieben. Doch niemand im Westen scheine sich für ihre Sicht zu interessieren.

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