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Türkei vor der Stichwahl – Schicksalswahl für Erdoğan
Türkei

Türkei vor der Stichwahl – Schicksalswahl für Erdoğan

Foto: Pixabay, LoggaWiggler

Der amtierende türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) und sein Rivale Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) lieferten sich bei der Wahl ein wahres Kopf-an-Kopf-Rennen. Jetzt läuft alles auf eine Stichwahl am 28. Mai hinaus.

Am Sonntag spielte sich in der Türkei ein echter Wahl-Krimi ab. 64 Millionen Wahlberechtigte waren aufgerufen, einen neuen Staatspräsidenten und ein neues Parlament zu wählen. Die hohe Wahlbeteiligung von 93 Prozent an der von Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) erklärten „Schicksalswahl“ zeigte die gesellschaftliche Brisanz. Viele haben sich auf Unruhen vorbereitet, bunkerten Vorräte oder sogar Waffen für die nächsten Tage.

Entgegen der Vorwahlprognosen lag der aktuelle Amtsinhaber am Wahltag zunächst vorne. Bereits wurden Manipulationsvorwürfe laut. Dann das unzufriedenstellende Ergebnis am Montagmorgen: 49,4 Prozent für Erdoğan und 44,96 Prozent für seinen Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu. Wenn es dabei bleibt, hat keiner der beiden Kandidaten die absolute Mehrheit und die Wähler müssen erneut zur Urne gebeten werden.

Kılıçdaroğlu, der Kopf der stärksten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) war in einem Sechser-Bündnis zusammen mit der nationalkonservativen Iyi-Partei und vier kleineren Parteien gegen den aktuellen Präsidenten angetreten. Kurz zuvor war sein Gegenspieler aus dem eigenen Lager, Muharrem Ince, zurückgetreten. Viele Türken erwarten für die Stichwahl einen entscheidenden Kurswechsel. Zum ersten Mal in der Erdoğan-Ära muss der Machthaber um seine Vorrangstellung bangen.

Fast 20 Jahre als Präsident

Zwei Jahrzehnte ist Erdoğan, der Gründer der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), an der Macht, zunächst bis 2014 als Ministerpräsident, seither als der zwölfte Präsident der Türkei. Mit seiner national-konservativen Ausrichtung hat Erdoğan das Land geprägt. Zunächst war er Symbol des Fortschritts, denn er verhalf der Nation zu wirtschaftlichem Wachstum. Die Arbeitslosigkeit ging zurück, der Lebensstandard stieg – so hatte der Präsident die Massen hinter sich.

Doch die Zahl seiner Kritiker wuchs. Erdoğan habe sich zu einem Despoten entwickelt, der seinen persönlichen Machtapparat installiert habe, sagen sie. Unter seiner Herrschaft wurden politische Gegner verfolgt, die Pressefreiheit eingeschränkt und Proteste von Seiten der Bevölkerung, wie die im Gezi-Park 2013, niedergeschlagen. Er habe den Rechtsstaat ausgehöhlt, als er 2018 die parlamentarische Demokratie zugunsten eines Präsidialsystems abschaffte, lautet einer der vielen Vorwürfe. „Spätestens seit 2018 war die Türkei keine Demokratie mehr“, sagt Burak, ein 30-jähriger Deutsch-Türke aus München. Das politische System sei nur noch „Dekoration“.

Vor allem junge Türken sind derzeit unzufrieden. Sie verbinden mit Erdoğans Kurs Autorität und Konservatismus. Die großen politischen Spannungen sind auch Folge eines wachsenden Unmuts über die Wirtschaftskrise in der Türkei, die noch verstärkt wurde durch das verheerende Erdbeben Anfang Februar.

Laut Angaben der türkischen Statistikbehörde TÜIK lag die Inflationsrate im April bei 43,7 Prozent, wobei die Realinflation wahrscheinlich höher ist. Die Landeswährung Lira fiel unlängst auf den tiefsten Stand seit Einführung. Extrem hohe Steuern auf Konsumgüter treiben viele in die Armut. Ein bekanntes türkisches Meme in sozialen Netzwerken sagt: „Wenn du ein Handy kaufst, kaufst du eines für dich und eines für Erdoğan“. Die ökonomische Instabilität habe Politik zum Dauerthema gemacht, sagt Burak.

Nach seinen Worten fühlen sich viele Menschen von ihrem Präsidenten im Stich gelassen und setzen auf Kılıçdaroğlu. Der gilt in vielen Punkten als das Gegenbild Erdoğans. „Dies ist mein Kampf für eure Rechte“ hatte er 2022 gesagt. Als Sozialdemokrat steht auf seinen Fahnen natürlich: Demokratie, Gerechtigkeit, Meinungsfreiheit. Kılıçdaroğlu, der den Spitznamen „türkischer Gandhi“ trägt, verspricht unter anderem die Wiedereinführung des parlamentarischen Systems, die Entlassung inhaftierter Erdoğan-Gegner und eine kontrollierte Zurückführung der syrischen Flüchtlinge.

Er plädiert für eine stärker westlich gerichtete Außenpolitik. Dazu gehört auch die Wiederaufnahme der Gespräche zum Beitritt der Türkei zur Europäischen Union (EU). In den deutschen Leitmedien wird Kılıçdaroğlu zumeist als Retter der Demokratie dargestellt. Erdoğan ist dagegen der Buhmann, ähnlich wie Trump in den USA.

Gespaltene Gesellschaft

Für Deniz aus Berlin ist das eine einseitige Darstellung. Die türkische Gesellschaft sei tief gespalten in die religiösen Erdoğan-Anhänger und die „modernen“, pro-westlichen Kılıçdaroğlu-Wähler, erklärt er. Letztere würden ihre gläubigen Landsleute in Angst vor der zunehmenden Islamisierung bekämpfen, so Deniz. Als die ländlichen, konservativeren Gruppen den repressiven Corona-Maßnahmen kritischer gegenüberstanden, hätten sie sich radikalisiert.

Er zweifelt daran, dass Kılıçdaroğlu der Türkei die lang ersehnte Befreiung bringen wird. Denn eine größere Öffnung zum Westen würde bedeuten, noch mehr unter der neoliberalen Agenda zu stehen. Mit Kılıçdaroğlu an der Spitze solle die „internationale Zusammenarbeit“ gestärkt werden, sagt der ehemalige Diplomat Sinan Ülgen, Mitglied einer US-amerikanischen Denkfabrik. Er fordert eine engere Bindung der Türkei an die Nato und mehr Beteiligung an den Russland-Sanktionen.

Erdoğan hatte diesen eher widerwillig zugestimmt, er setzte auf gute Beziehungen zu den BRICS-Staaten. Würde er verlieren, könnten wichtige Handelspartner wegfallen, was die türkische Wirtschaft schwächen würde. Für Deniz ist Erdoğan ein Egoman und Doppelspieler. Doch könne er am Ende das geringere Übel bedeuten. Nichtwähler wie er halten die Wahl für eine reine Ablenkungskampagne und sagen: Was die Türkei und alle Nationen wirklich brauchen, ist eine Überwindung der Spaltung und eine echte Demokratisierung von unten.

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