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Neue Erklärung für Übergewicht
Studie

Neue Erklärung für Übergewicht

Foto: Pexels/Moe Magners

Falsche Ernährung in Verbindung mit einer zunehmend inaktiven Lebensweise galten bislang als Hauptursachen dafür, dass Übergewicht weltweit zunimmt. Eine aktuelle Studie kommt nun zu dem überraschenden Ergebnis, dass sich der menschliche Energieverbrauch in den letzten 30 Jahren verändert hat. Nicht Mangel an Bewegung, sondern ein geringerer Energieverbrauch in Ruheperioden könnte bei vielen Menschen der wahre Grund für eine Gewichtszunahme sein.

Übergewicht nimmt weltweit zu. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gelten inzwischen über eine Milliarde Menschen als übergewichtig, mit möglichen Folgen für ihre Gesundheit. Vermutet wird, dass eine erhöhte Nahrungsaufnahme in Kombination mit zu wenig Bewegung die Hauptursache für die wachsende Zahl an übergewichtigen Personen ist. Um einer globalen Adipositas-Krise entgegenzuwirken, will die WHO die Menschen zu einer gesünderen Lebensweise motivieren und Leitlinien zur Prävention und Behandlung von Übergewicht entwickeln.

Gewichtszunahme ist immer das Resultat einer insgesamt positiven Energiebilanz. Das bedeutet, der Körper nimmt mehr Energie in Form von Nahrung auf als er durch körperliche Aktivität verbraucht. Die einfachste Erklärung, dass Menschen ihre Energiezufuhr in den letzten Jahren kontinuierlich gesteigert hätten, ist aber unter Experten umstritten. So zeigen Daten über die Ernährungsgewohnheiten in den USA, dass die Nahrungsaufnahme in den letzten 20 Jahren kontinuierlich gesunken ist, während gleichzeitig die Fettleibigkeit zunahm. Offenbar ist die reine Energieaufnahme allein nicht entscheidend.

Untersuchungen des Energieverbrauchs

Im Fachmagazin Nature Metabolism ist nun eine Studie erschienen, die neue Gesichtspunkte in die Debatte einbringen dürfte. Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Professor John Speakman, einem renommierten Experten für Stoffwechsel an der Universität Aberdeen, hat sich mit der Frage befasst, ob es möglicherweise Veränderungen im Energieverbrauch gibt, die einen Beitrag zum weltweiten Anstieg von Übergewicht bei Menschen leisten.

Speakman und seine Kollegen nutzten für ihre Untersuchung eine Datenbank der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO), welche die Rohdaten vieler Studien enthält, die bei verschiedenen wissenschaftlichen Projekten der letzten Jahre gesammelt worden waren. Alle diese Studien basieren auf einer Technik, in der doppelt markiertes Wasser eingesetzt wurde, um den Energieverbrauch der Studienteilnehmer exakt zu erfassen. Gemessen wurde dabei, wie schnell das markierte Wasser, das bestimmte Wasserstoff- und Sauerstoffisotope enthält, den Körper wieder verlässt. Daraus kann die Menge des vom Körper produzierten Kohlendioxids geschätzt und der Energieverbrauch errechnet werden.

Die Wissenschaftler konnten bei ihren Untersuchungen auf Daten von insgesamt mehr als 4500 Erwachsenen aus den USA und Europa zugreifen, die über einen Zeitraum der letzten 40 Jahre in Studien gesammelt worden waren. Anhand dieser Informationen wurde für die Studienteilnehmer ihr Gesamtenergieverbrauch, aber auch ihr Energieverbrauch in Ruhe und während körperlicher Aktivitäten berechnet.

Interessanterweise stellten die Wissenschaftler fest, dass sich der Gesamtenergieverbrauch seit den 1990er Jahren deutlich verändert hat: Bei Männern sank er um 7,7 Prozent, während er bei Frauen um 4,8 Prozent abnahm. Zur großen Überraschung der Forscher war ein Rückgang des Energieverbrauchs in den letzten 30 Jahren allerdings hauptsächlich in Ruhephasen feststellbar, während bei körperlicher Aktivität eher ein Anstieg des Energieverbrauchs errechnet werden konnte. Wieso der Energieverbrauch ausgerechnet in Ruhe derart deutlich gesunken ist, bleibt unklar. Der Umfang der festgestellten Abnahme ist jedoch ausreichend groß, um die global beobachtete Gewichtszunahme in der Bevölkerung während dieser Zeit zu erklären.

Mögliche Ursachen für geringeren Energieverbrauch

In einem Interview mit Technology Networks spekuliert Professor Speakman, dass veränderte Lebensgewohnheiten eine Rolle für den veränderten Energieverbrauch spielen könnten. So steigert zum Beispiel Rauchen nachweislich den Kalorienverbrauch in Ruhe und der Konsum von Zigaretten ist in den letzten Jahren tatsächlich kontinuierlich zurückgegangen. Auch könnten verbesserte Heizungen oder Klimaanlagen dazu beigetragen haben, dass wir weniger Energie in die Regulation unserer Köpertemperatur stecken müssen. Aber auch eine insgesamt geringere Belastung durch Infektionskrankheiten stellen eine mögliche Erklärung dar, da Abwehr von Erregern und Rekonvaleszenz erhebliche Mengen an Energie verbrauchen.

Schließlich muss aber auch eine Anpassung des menschlichen Organismus an veränderte Ernährungsgewohnheiten als Ursache für einen insgesamt verringerten Energieverbrauch in Betracht gezogen werden: Die Verarbeitung und die Inhaltsstoffe vieler Lebensmittel haben sich in den vergangenen Jahrzenten geändert, gleichzeitig steht die mikrobielle Zusammensetzung unseres Darms in einem dynamischen Verhältnis sowohl zu unserer Lebensweise als auch zu unserer Ernährung. Die Verwertung unserer Nahrung durch unser Verdauungssystem mag sich daher dahingehend verändert haben, dass der notwendige Energieverbrauch für die Aufrechterhaltung unserer basalen Körperfunktionen in den letzten Jahren gesunken ist.

Es scheint, die Zusammenhänge zwischen Nahrungsaufnahme, Energieverbrauch und Gewichtszunahme sind komplexer als gedacht. Offenbar kann bei gleichbleibender Energiezufuhr und einem höheren Energieverbrauch während körperlicher Aktivität dennoch eine Nettogewichtszunahme eintreten. Daher müssen die Strategien zur Prävention und Behandlung von Adipositas angepasst werden. Ratschläge die allein auf weniger Essen und mehr Bewegung abzielen, werden dem Problem nicht gerecht.

Dr. Kay Klapproth ist Biologe mit Schwerpunkt Immunologie. Er hat viele Jahre in Forschung und Lehre gearbeitet, zuletzt als akademischer Rat der Universität Heidelberg.

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