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Kampf der Geschichtsschreibung in Ost und West
17. Juni 1953

Kampf der Geschichtsschreibung in Ost und West

Teil der Fotoaustellung 2023 in Berlin am "Platz des Volksaufstands 1953"

Seitdem im Juni 1953 Menschen in Ostberlin und anderswo in der DDR auf die Straße gingen und gegen die SED-Politik protestierten, wird um die Bedeutung der Ereignisse gestritten. Das geht bis heute so.

„Zu erwarten ist, dass gerade in der jetzigen Russophobie der Mythos vom ‚durch die sowjetische Armee brutal und blutig niedergeschlagenen‘ Aufstand wiederbelebt wird.“ Das schreibt die Publizistin Daniela Dahn in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe 12/2023 der Zweiwochenschrift Ossietzky zu den Ereignissen vor 70 Jahren. „Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampfplatz der Geschichtsschreibung in Ost und West. Das dürfte zum 70. Jahrestag des Ereignisses nicht viel anders sein.“

Das bestätigt die Fotoausstellung, die am Montag in der Hauptstadt von Berlins Regierendem Bürgermeister Kai Wegner (CDU) eröffnet wurde. Er wolle, berichtete die Berliner Zeitung am selben Tag, dass der Jahrestag auch zum Auftakt eines Umdenkens der Erinnerung an den 17. Juni 1953 in Berlin wird. Der Tag muss „präsenter“ werden, erklärte Wegner bei Ausstellungseröffnung direkt gegenüber der Russischen Botschaft Unter den Linden.

An der Straße des 17. Juni oder am Platz des Volksaufstandes von 1953 gebe es nicht ausreichend greifbare Information über die Geschehnisse jenes Tages, so der Bürgermeister. Die aktuelle Ausstellung mit ihren „authentischen“ Bildern könne ein Vorbild für eine bessere Auseinandersetzung mit diesem Thema an Ort und Stelle darstellen.

„Authentische“ Fotos von Westjournalisten

Die Ausstellung biete keine vollständige Chronologie der Ereignisse, erklärte der Kurator Bjoern Weigel von Kulturprojekte Berlin am Montag. Die Anfänge, zum Beispiel in den Betrieben, seien nicht durch Fotos dokumentiert worden. Viele der ausgestellten „authentischen“ Aufnahmen wurden später am Tag der Ereignisse von hinzugekommenen westlichen Journalisten gemacht.

Was auf beiden Seiten gern unterschlagen wurde, war laut Dahn der Kontext der Nachkriegsgeschichte. In dieser sei es durchaus noch offen gewesen, zu welcher Ordnung sich ein geteiltes oder gar vereintes Deutschland entwickeln würde. In diese Tradition reiht sich auch die aus dem Kontext gerissene Ausstellung in Berlin ein.

Der Geschichtswissenschaftler Siegfried Prokop kritisiert in seinem Buch „Die DDR hat`s nicht gegeben“ die gängigen Darstellungen des sogenannten Volksaufstandes:
„In der Regel wird vernachlässigt, dass der 17. Juni ein Kulminationspunkt zweier Konfliktstränge war:

  1. einer veränderten Deutschlandpolitik der UdSSR von Ende Mai bis Ende Juni 1953, die auf einen Kompromiss mit dem Westen aus war; die Churchill-Rede vom 11. Mai 1953 bildete dazu den Ausgangspunkt;
  2. der Systemkrise des Ostblocks am Ende der Stalin-Ära, die vor allem für die DDR mit einer Überforderung der Kräfte verbunden war: Reparationszahlung, Kasernierte Volkspolizei KVP (nach Stalin eine Armee in gleicher Stärke wie die deutsche Armee im Westen), Bezirksbildung, Bildung der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) und „Verschärfung des Klassenkampfs“.


Panzer im Ost und West

Am 17. Juni 1953 haben sich laut dem Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler vor allem die Arbeiter der DDR als Hauptbetroffene gegen das gewehrt, was damals Sparpolitik genannt wurde und heute Austeritätspolitik heißt. Er macht darauf aufmerksam, dass die Bundesrepublik beziehungsweise die westliche Bizone von USA und Großbritannien zuvor dasselbe erlebten, bis hin zum Eingreifen des Militärs.

Die sowjetische Entscheidung vor 70 Jahren, Panzer einzusetzen, folgte laut dem Historiker Prokop einem US-amerikanischen Beispiel: 1948 waren in Stuttgart angesichts von massenhaften Streiks und Demonstrationen gegen die sozialen Folgen der Währungsreform US-Panzer aufgefahren. „Man muss dabei berücksichtigen, dass zu dieser Zeit der Kriegszustand noch nicht beendet war“, so Prokop in einem Interview. „Der Kriegszustand wurde in der DDR erst 1954 für beendet erklärt.“

Im „Arbeiter- und Bauernstaat“ gab es kein Streikrecht, so die Publizistin Dahn, weil die Werktätigen in den volkseigenen Betrieben angeblich nicht gegen sich selber hätten streiken können. Umso kopfloser war aus ihrer Sicht das völlig verfehlte Krisenmanagement der DDR-Führung, als die Arbeiter am 17. Juni 1953 auf die Straße gingen, weil sie merkten, dass sie viel weniger verdienten als vorher.

Dahn erinnert auch an einen anderen vergessenen Fakt: Damals streikten von April bis Juni 1953 auch die Westberliner Bauarbeiter immer wieder für höhere Löhne. Und sie fragt in Ossietzky: „Haben die wiederholten berichte der Berliner Zeitung darüber womöglich die Kollegen in Ostberlin ermutigt?“

Sowjetischer Hochkommissar verweigert Exekution

„Was tags zuvor mit spontanen Streiks in Ostberliner Arbeiter in der Stalinallee begonnen hatte, verbreitete sich via Rias (Radio im amerikanischen Sektor von Berlin) und wurde bald im ganzen Land aufgegriffen.“ So beschreibt die Historikerin Katja Hoyer in ihrem vielbeachteten Buch „Diesseits der Mauer“ die Ereignisse vor 70 Jahren.

Wladimir Semjonow, damals sowjetischer Hochkomissar in der DDR, erinnert sich in seinem Buch „Von Stalin bis Gorbatschow. Ein halbes Jahrhundert in diplomatischer Mission 1939-1991“: „Am 17. Juni 1953 gegen 7.00 Uhr morgens begannen Unruhen im Zentrum Berlins. In der Nacht zuvor hatten wir große Panzer- und Artillerieverbände in die Stadt gebracht. Auf diese stürzten sich nun wütende Menschengruppen, die aus Westberlin und von Sammelpunkten im Osten kamen. Man bewarf die sowjetischen Offiziere, die in den offenen Panzerluken standen, mit faulen Eiern, Tomaten und Steinen.“

Semjonow weiter: „… Die Leidenschaften kochten über. Um 11.00 Uhr erhielten wir die Weisung aus Moskau, das Feuer auf die Aufrührer zu eröffnen, militärische Standgerichte einzurichten und zwölf Rädelsführer zu erschießen. Die Mitteilung über die Exekutionen sollten überall in der Stadt ausgehängt werden. Da Sokolowksi und ich aber über außerordentliche Vollmachten verfügten, handelten wir nicht nach dieser Weisung Moskaus und gaben lediglich den Befehl, über die Köpfe der Demonstranten hinwegzuschießen.“ Wassilii Sokolowski war sowjetischer Marschall, hatte im Zweiten Weltkrieg unter anderem sowjetische Truppen in der Kursker Schlacht befehligt und war als Generalstabschef nach Berlin geschickt worden.

Über die genauen Umstände der 55 Todesopfer des Aufstandes sei erstaunlich wenig bekannt, so die Schriftstellerin Dahn. Immerhin seien über 250 öffentliche Gebäude erstürmt worden, darunter Dienststellen der Polizei, der Staatssicherheit und der SED. Aus zwölf Gefängnissen seien 1400 Häftlinge befreit. „Diese Aktionen waren oft von Demütigungen und gewaltsamen, bewaffneten Prügeleien von beiden Seiten begleitet.“

Weder Revolution noch Aufstand

Die DDR-Führung erklärte den Aufstand vom 17. Juni schnell zu einem „faschistischen Putsch“. Später wird in der DDR von einem „kontrarevolutionären Putsch“ gesprochen. In der westlichen Welt wird er zum Symbol für den Freiheitswillen der DDR-Bevölkerung erklärt. Schon wenige Tage nach den Ereignissen wird er in der Bundesrepublik zum Gedenktag erklärt und ab 1954 als „Tag der deutschen Einheit“ bis zur Wiedervereinigung 1990 als gesetzlicher Feiertag begangen.

Laut dem Historiker Roesler ist die politische Meinung der damals streikenden und protestierenden Arbeiter in der Breite aber nicht bekannt. „Die hat ja keiner befragen können.“ 1956 sei von dem Meinungsforschungsinstitut „Infratest“ eine Befragung von Arbeitern aus der DDR gemacht worden, die in die BRD übergesiedelt sind. Das zeige, dass es nicht anzunehmen sei, dass die alle den Sozialismus abschaffen wollten, im Gegenteil.

Selbst Willy Brandt betonte 1955 in seiner Schrift „Arbeiter und Nation“, es habe am 17. Juni 1953 nirgends eine restaurative Tendenz unter den Arbeitern gegeben, dafür durchaus unzweideutige Vorbehalte gegenüber der westlichen Politik. Den Demonstranten sei es keinesfalls um eine einfache Angliederung der DDR an die Bundesrepublik gegangen, meinte Brandt.

Roesler kommt zum Schluss: Es war eine Arbeiter-Rebellion, aber keine Revolution oder „Aufstand gegen das Regime“. Mit der Losung „Spitzbart, Bauch und Brille sind nicht des Volkes Wille“ seien Walter Ulbricht, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl gemeint gewesen, die damals führenden Köpfe der DDR. „Das hieß: Wir brauchen eine neue, eine andere Regierung. Die Wiederherstellung des Privateigentums und des Kapitalismus ist nicht gefordert worden.“

Rias mit Hintergrund-Funktion

Zu dem Einfluss des Westens verweist Roesler darauf, dass der Sender Rias ab März 1953 Sendungen zur Frage der in der DDR erhöhten Normen gebracht hat. Er habe damit eine Hintergrundfunktion im geschehen gehabt. Der Sender habe das Problem aufgegriffen und für alle verständlich dargestellt, aber damit auch mobilisiert. „Es gab ja keine zentrale Organisation der Streikenden. Das hat der Rias ersetzt, mit Ansagen der Orte der Demonstrationen, Uhrzeiten.“

Egon Bahr, der damals als Journalist bei Rias arbeitete, schrieb in seinem Buch „Ostwärts und nichts vergessen“ über die Ereignisse vor nunmehr 70 Jahren: „Wir haben selbstverständlich verfolgt, dass es in der Zone … Unruhen gab wegen der Erhöhung der Arbeitsnormen, was mehr Arbeit fürs gleiche Geld bedeutete. Wir hatten aber keine Ahnung, bis zu welchem Grad das eskalieren würde.“ Er wies auf die Demonstrationszüge hin, die vor dem Haus der Ministerien in Ostberlin angekommen waren.

„Losgegangen waren sie mit der Forderung: Weg mit den Normenerhöhungen und angekommen sind sie ein paar Kilometer weiter mit der Forderung nach freien Wahlen. Da waren ökonomische Forderungen in politische Forderungen verwandelt worden.“ Er stellte auch klar: „Das war der Punkt, an dem die sowjetische Besatzung eingreifen musste, weil ihr sonst die Kontrolle aus den Händen genommen worden wäre.

Gegen 13 Uhr wurde in Ostberlin der Ausnahmezustand verhängt, sagte Historiker Prokop in einem Interview „Von nun an herrschte Kriegsrecht. Im Verlaufe des Nachmittags und Abends wurde der Ausnahmezustand auf 167 Stadt- und Landkreise ausgedehnt. 40 Stadt- und Landkreise bleiben ohne Ausnahmezustand.“

Wollt ihr den Dritten Weltkrieg?

„Gegen Mittag kam die Ausrufung des Ausnahmezustandes“, erinnerte sich der Journalist und spätere führende SPD-Politiker Bahr. „Die Demonstranten hatten verabredet: Am 17 Juni um 6 Uhr früh sollen sich alle am Strausberger Platz treffen. Das haben wir gesendet. Eine halbe Stunde später kam mein amerikanischer ‚Controller‘ mit bebendem Bärtchen zu mir: Das müsse sofort aus dem Programm. Das sei ein Befehl des amerikanischen Hochkommissars. Ob denn der Rias den Dritten Weltkrieg auslösen wolle? Können Sie garantieren, dass die Demonstranten nicht einfach weitermarschieren nach Westberlin?“

Bahr weiter über die Rolle des US-finanzierten Senders: „Alle hatten Rias gehört! Aber es hat noch ein paar Tage gedauert, bis wir begriffen: Überall in der DDR wurden die fünf Punkte, die der Rias gesendet hatte, mit dem exakten Wortlaut aufgegriffen und öffentlich vertreten. Das was das erste Mal, dass ein elektronisches Medium diese Wirkung erzielte. Wir hatten, ohne es zu wissen und ohne es zu wollen, den Aufstand ausgelöst. Der Rest ist Geschichte: Der Aufstand wurde durch russische Panzer erstickt.“

Der Historiker Arnulf Baring schrieb dazu bereits 1965: „Aber man täusche sich nicht: der Aufstand ist nicht durch die sowjetischen Truppen niedergeschlagen worden. Aufs Ganze gesehen war die revolutionäre Welle schon gebrochen, bevor die Russen aufmarschierten. Ihr Eingreifen war kein Wendepunkt, sondern hat nur einen Schlusspunkt gesetzt: Die Streik- und Demonstrationsbewegung hatte sich im Laufe des Tages erschöpft, der Elan war versickert, der Aufstand in seinen Anfängen steckengeblieben.“

Für viele Arbeiter seien der Streik beziehungsweise die Demonstration zu Ende gewesen, nachdem sie aus Lautsprecherwagen erfahren hatten, dass die Normerhöhung zurückgenommen worden sei, so Prokop. Hätten die Verantwortlichen nicht erst am 17. Juni 18 Uhr diese Mitteilung über den Rundfunk verbreitet, wäre der Konflikt nicht so dramatisch verlaufen, ist sich der Historiker sicher.

Gewollte zwanghafte Parallelen

Dass die aktuelle Ausstellung in Berlin ausgerechnet direkt vor der russischen Botschaft steht, ist kein Zufall. Anna Kaminsky, Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, zog bei der Ausstellungseröffnung Parallelen zwischen den sowjetischen Panzern, die den „Aufstand für demokratische Werte in der DDR“ niederwalzten, und dem heutigen russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Solche Parallelen würden das heutige Gedenken umso wichtiger machen.

Doch das suggerierte Bild, wonach die friedlichen Demonstranten 1953 nach „chinesischer Lösung“ zusammengeschossen wurden, ist aus Sicht der Publizistin Dahn falsch. „Fakt ist: Die sowjetischen Panzer hatten strengen Befehl, nicht zu schießen. Daran haben sie sich auch gehalten. Das ist den aufgebrachten Demonstranten auch schnell aufgefallen. Eher sind die in den Luken stehenden jungen Panzerfahrer mit Steinen und Latten angegriffen worden, als dass diese Gewalt angewendet hätten.“

Die einschüchternde Wirkung der Panzer hatte Grenzen, so Dahn. „Während des gesamten Aufstandes ist kein einziger Mensch durch die Gewalt eines Panzers ums Leben gekommen. Es soll einen Unfall gegeben haben, bei dem ein Panzer in eine Baugrube gerutscht ist und dabei jemanden erdrückt hat.“

Berlins regierende Bürgermeister Wegner bezeichnete den 17. Juni bei der Eröffnung der Fotoausstellung als einen „einschneidenden“ Tag in der deutschen Geschichte, „auf den man stolz sein könne“. Weniger stolz sollte man sein bei der Wahl des Ortes der Ausstellung direkt vor der Russischen Botschaft , gar nicht zu sprechen von dem Auftakt – am Montag, dem 12. Juni. An diesem Tag feiert Russland nämlich seit 1990 den Nationalfeiertag.

Lesen Sie morgen den 2. Teil des Berichts: „17. Juni 1953: Die Fortsetzung einer Legende“.

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