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Ernst Jünger und die Cancel Culture – Über die Schwierigkeit, öffentliche Lesungen durchzuführen
Zeitgeist

Ernst Jünger und die Cancel Culture – Über die Schwierigkeit, öffentliche Lesungen durchzuführen

Veranstalter müssen mittlerweile aufpassen, welche Künstler sie ins Programm aufnehmen. Aufgrund des übersteigerten Moralismus der Meinungswächter kann die Auswahl schnell auf die Füße fallen. Die heutige Nervosität lässt sich am Beispiel von Ernst Jünger veranschaulichen.

An dem Schriftsteller Ernst Jünger scheiden sich bis heutige die Geister, obwohl die Tendenz schon lange dahin geht, ihn aus dem literarischen Kanon und der öffentlichen Wahrnehmung auszusortieren. Tatsächlich lässt sich der Autor von so Werken wie „In Stahlgewittern“, „Auf den Marmorklippen“ oder „Der Waldgang“ mit dem woken Zeitgeist schwer in Verbindung bringen. Jünger liebte den Adrenalinkick nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch im täglichen Überlebenskampf. Er trat elitär auf und bekämpfte die Weimarer Republik. In einer Zeit des übersteigerten Moralismus ruft so einer schnell die Meinungswächter auf den Plan. Heute wird Jüngers Hang zum Abenteuer gerne als toxische Männlichkeit ausgelegt, seine Kaisertreue als Nationalismus. Obwohl er nicht der NSDAP beitrat und die rassische Ideologie ablehnte, gilt er trotzdem als rechts, schon allein deswegen, weil die Nationalsozialisten sich seiner Ideen bedienten.

Der woke Mainstream hat das Image des Schriftstellers nach und nach so ins Negative gebogen, dass Veranstalter sofort nervös werden, wenn der Name Ernst Jünger fällt. Dazu gibt es ein aktuelles Beispiel: Der Schauspieler Urs Rechn wollte am 13. Mai im Kornspeicher Obrechtsfelde das Oeuvre des Schriftstellers in einer Lesung vorstellen. Es sollte ein „chronologischer Gang durch ein Jahrhundert“ werden, wie er es ausdrückt, mit kurzen Passagen aus verschiedenen Werken. Dass der Veranstalter nicht so recht wusste, wie er mit diesem Projekt umgehen sollte, belegt der Prozess der Ankündigung, in dem die Texte ständig wechselten. Zunächst versuchte man sich von Ernst Jünger zu distanzieren. Er wurde als „demokratiefeindlich“ und als einer der „umstrittensten Autoren“ charakterisiert. „Aber man muss Jünger im Kontext seiner Zeit betrachten“, sagt der Schauspieler. „In der noch jungen Weimarer Republik war die allgemeine Stimmung noch nicht so demokratisch wie heute und auch den Sozialdemokraten weniger gesinnt.“

Wenige Tage später kam schließlich die Absage der Lesung. Als Grund gab der Kornspeicher Obrechtsfelde an, dass der Vorverkauf der Karten recht schlecht laufe. Für Rechn war das eine Überraschung. Als Theaterschauspieler weiß er, dass das keinen ungewöhnlichen Vorgang darstellt. Oftmals werden die meisten Karten erst an der Abendkasse gekauft. „Ich hätte mir Hoffnungen gemacht, dass an dem Tag der Lesung viele gekommen wären“, sagt er. „Heute weiß ich, dass der Saal ausverkauft wäre, weil ich bis heute Zuschriften bekomme, in denen Menschen ihr Bedauern aussprechen oder fragen, warum die Veranstaltung abgesagt worden ist.“

Ausdrucksstarke Metaphern, wunderschöne Naturbeschreibungen

Das Interesse an Ernst Jünger scheint vorhanden zu sein. Hinter dem ramponierten Image durch die woke Ideologie versteckt sich nämlich ein begnadeter Schriftsteller, dem es wie nur wenigen gelang, ausdrucksstarke Metaphern zu produzieren. Vor allem die Naturbeschreibungen sprechen viele Leser an und wecken Assoziationen mit dem eigens Erlebten. „Die Bilder, die er erzeugt“, sagt Rechn, „entsprechen den meinen. Jünger wurde oft vorgeworfen, er sei ein Mann von großer Unempfindlichkeit, die sich in dessen Werken niederschlägt. „Sie sind tatsächlich wenig durchtränkt von Emotionalität“, so Rechn. „Diese entsteht aber dann beim Lesen, weil man in den Beschreibungen sich selbst erkennt.“ Das sei sehr selten.

Für den Schauspieler war Jünger jemand, der sehr weit voraussah und Entwicklungen vorwegnahm. Das gelte selbst für die Gegenwart. Sein Interesse an dem Schriftsteller entstand gerade dadurch, dass dieser öffentlichkeitswirksam ins schlechte Licht gerückt wurde. „Ich wollte wissen, ob das stimmt“, erklärt Rechn. Im Laufe der Lektüre habe er schließlich gemerkt, dass viele Aussagen schlicht verzerrt seien. „Der Dramatiker Heiner Müller, einer meiner Lieblingsautoren, bestätigte meine Sicht. Er sprach immer sehr eindrücklich über Jünger.“ Dessen Werk sei tatsächlich keine einfache Literatur. „Aber wenn man sie sich angeeignet hat, kommt man nicht davon los.“ So ergeht es Rechn bis heute. Für seine Lesung hat er nun einen Ersatztermin gefunden. Sie soll am 3. Juni am Flughafen Schönhagen stattfinden – dieses Mal reibungsfrei und ohne viel Tamtam, wie der Schauspieler hofft.

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