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Die Fortsetzung einer Legende
17. Juni 1953

Die Fortsetzung einer Legende

So wünschte sich die SED-Spitze 1952 eine Arbeiterdemonstration: Porzellanfresko am ehemaligen Haus der Ministerien in Berlin, heute Bundesfinanzministerium

Während die Ostlegende über die Ereignisse vor 70 Jahren vom „konterrevolutionären Putsch“ verschwunden ist, lebt die Westvariante vom „Volksaufstand“ weiter. Ein Blick auf Hintergrund, politische Instrumentalisierung und Mythologisierung.

Kaum war ein Tag nach den Ereignissen des 17. Juni vergangen, da hatten DDR und BRD ihre Erklärung für deren Ursachen und Hintergründe parat. Das schrieb Historiker Jörg Roesler in einer Broschüre der jungen Welt 2013 zum 60. Gedenktag des Aufstandes am 17. Juni 1953. „Gegensätzlicher sind die Interpretationen für ein und dasselbe Ereignis wohl selten gewesen.“

Im Osten habe das Organ des Zentralkomitees der SED Neues Deutschland am 18. Juni getitelt: „Zusammenbruch des Abenteuers ausländischer Agenten in Berlin“. Drei Tage später habe die Zeitung den Leser darüber aufgeklärt, „Wer hinter dem faschistischen Putschversuch des 17. Juni steht“. Im Westen habe die Süddeutsche Zeitung bereits am 18. Juni von einem „Volksaufstand“ in Ostberlin gesprochen. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung habe verkündet: „Die Arbeiterschaft ist aufgestanden gegen die bolschewistischen Ausbeuter.“

Die einander widersprechenden Charakterisierungen der Ereignisse des 17. Juni in der DDR und der BRD lassen laut Roesler vermuten, dass sie dem realen Geschehen nur unzureichend gerecht werden. Der 17. Juni 1953 gehöre zu den Ereignissen der DDR-Geschichte, die von den beiden Lagern des Ost-West-Konfliktes am meisten mythologisiert worden sind. Das sagte der Historiker Siegfried Prokop in einem Interview mit dem Nachrichtenportal Sputniknews im Juni 2020. „Ost und West trafen sich in der Übertreibung. Was dort ‚Volksaufstand‘ genannt wurde, hieß hier ‚faschistischer Putsch‘“.

Nützlicher Mythos

Für Anna Kaminsky, Direktorin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, handelt es sich bei dem Aufstand um „den Wunsch nach Freiheit, der auch mit Gewalt nicht unterdrückt werden kann“. Das sagte sie laut der Berliner Zeitung am Montag bei der Eröffnung einer Fotoausstellung zu den Ereignissen am 17. Juni 1953. Sie stelle den Aufstand an den Anfang einer Zeitachse, die sich mit dem Aufstand in Ungarn 1956, dem Prager Frühling 1968 und den beharrlichen Demonstrationen in Polen bis zum Zusammenbruch des Ostblocks nach dem Fall des Eisernen Vorhangs fortsetzte.

Prokop erinnerte daran, warum für den Westen der Aufstands-Mythos gelegen kam: Für die offizielle Politik des Westens war es geradezu peinlich, dass die Arbeiter der DDR am 17. Juni die Herstellung der deutschen Einheit durch freie Wahlen gefordert hatten. Schließlich waren durch die Bundesregierung die Weichen in Richtung Westintegration gestellt und damit die Frage der deutschen Einheit in weiter Ferne gerückt worden.

In der seit 1990 in Zusammenhang mit der „Aufarbeitung der DDR-Geschichte“ entstandenen Literatur werde die Vorgeschichte des 17. Juni in der Regel ab Juli 1952 behandelt, so Roesler.  Auf der 2. Parteikonferenz der SED Ende Juli sei „der Beginn des planmäßigen Aufbaus des Sozialismus“ in der DDR verkündet worden. „Deren Beschlüsse werden in der Regel als Ausgangspunkt jeder verderblichen Politik betrachtet, gegen die am 17. Juni 1953 auf die Straße gegangen wurde. Die DDR war doch nach der Meinung der meisten ‚Aufarbeiter der DDR-Geschichte‘ eine Diktatur, mit der man von Anfang an nicht einverstanden sein konnte.“

Massive Folgen

Im März 1952 habe die sowjetische Regierung ihren drei Alliierten aus dem Zweiten Weltkrieg den Vorschlag für einen Friedensvertrag mit Deutschland überreicht, so Historiker Roesler. Damit wollte die sowjetische Führung verhindern, dass sich die Bundesrepublik in das westliche Bündnis integriert.  Die USA, Großbritannien und Frankreich hätten jedoch die sogenannte Stalin-Note abgelehnt. Dies habe den Kalten Krieg verschärft.

Die SED sah sich 1952/53 aus Sicht des Historikers Stefan Bollinger vor zwei Aufgaben gestellt gesehen: Zum einen hatte sie im Juli 1952 den „Aufbau der Grundlagen des Sozialismus“ verkündet – „ein sehr hohes gesellschaftspolitisches Ziel“. Zum anderen habe sie und ihre Verbündeten nach dem Scheitern der „Stalin-Noten“ einen Kurs der massiven Aufrüstung und der Vorbereitung auf einen von ihnen befürchteten Krieg begonnen. Dazu sollte die DDR einen wesentlichen Beitrag leisten. Beide Aufgaben gleichzeitig, insbesondere die Rüstungsaufgabe, hätten die DDR-Wirtschaft eindeutig überfordert. Das gehöre zu den Hintergründen, um zu verstehen, warum die SED versucht hat, über Normenerhöhung und ähnliches zu entsprechenden wirtschaftlichen Ergebnissen zu kommen.

„Es war also kein Verrat an Arbeiterklasse, aber eine Überforderung, und die Unfähigkeit der SED-Führung, die entsprechenden Signale, die es in der Gesellschaft und in der Partei selbst gegeben hat, zur Kenntnis zu nehmen und die Maßnahmen rechtzeitig zu korrigieren“, so der Historiker. Hinzugekommen sei, dass die SED-Führung nach dem Tod Stalins Anfang März 1953 mit den Veränderungen in der Sowjetunion und in der KPdSU-Führung offenbar zu wenig anfangen konnte und die bisherige Politik wenig in Frage gestellt habe.

Politische Instrumentalisierung

Der daraus folgende seit dem Herbst 1952 anschwellende Strom von „Zonenflüchtlingen“ in die BRD diente als Beleg für die Richtigkeit der Westversion der Legende vom 17. Juni, schrieb Roesler. „Eine andere überprüfbare Tatsache waren die Dankschreiben von Empfängern der von westdeutschen Familien verschickten Lebensmittelpakete an DDR-Adressen. Die Absender konnten daraus auf einen deutlich geringeren Lebensstandard der ‚Zonenbewohner‘ im Vergleich zum in der Bundesrepublik erreichten Versorgungsniveau schließen“.

Die Führung der DDR habe unter sowjetischem Druck am 9. und 11. Juni einen „Neuen Kurs“ verkündet, so der Historiker Prokop in seinem Buch. Sie habe sich zu politischen Fehlern bekannt und Korrekturen angekündigt. Die Lebenshaltung aller Teile der Bevölkerung sollte verbessert und die Rechtssicherheit gestärkt werden. „Lediglich die administrativen Normerhöhungen um zehn Prozent waren nicht zurückgenommen worden. Das holte das SED-Politbüro erst am 16. Juni nach. Das war zu spät, denn die Arbeiter hatten bereits schmerzhaft zu spüren bekommen, dass sich die Normerhöhung als Lohnkürzung auswirkte. Streiks und Demonstrationen am 17. Juni in Berlin und anderen Bezirksstädten mit Ausnahme des Bezirks Suhl waren die Folge.“

Während bis 1989 die politische Klasse auf beiden Seiten an ihrer Interpretation des 17. Juni 1953 festhielt, ist die ostdeutsche Version von DDR-Historikern Ende 1989 fallengelassen worden. Die bundesdeutsche Zeitgeschichtsschreibung hält dagegen bis heute an der von der politischen Klasse der Bundesrepublik gepredigten Einschätzung der Juni-Ereignisse fest. Das zeigt auch, dass der Platz vor dem Finanzministerium erst 2013 als „Platz des Volksaufstandes“ umbenannt wurde.

Beibehaltene Geschichtslegende

Geschuldet ist dies aus Sicht von Roesler „dem Beibehalten, ja dem Ausbauen der während des Kalten Krieges entwickelten Geschichtslegende der Bundesrepublik“. Demnach sei Deutschland seit Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Weg zu immer mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. „Der Nationalsozialismus und der Realsozialismus als ‚zweite deutsche Diktatur‘ werden als Irrwege außerhalb dieser Kontinuität verortet.“

„Ein derartiges „patriotisches“ Geschichtsbild verbietet es geradezu, Tatsachenforschung zu betreiben und von der 1953 geschaffenen bundesdeutschen Charakteristik des 17. Juni in der DDR abzuweichen“, erklärte der Historiker.

Mit der Wiederkehr des Kalten Krieges verhallt die Forderung der Publizistin Daniela Dahn in einem Beitrag in der aktuellen Ausgabe 12/2023 der Zweiwochenschrift Ossietzky: „Bei dem vielen Geld der Steuerzahler, das in Forschung geflossen ist, sollten sich wenigstens an diesem Jahrestag alle Behörden verpflichtet fühlen, von sich aus mit differenzierten Erkenntnissen der medialen Einseitigkeit entgegenzutreten.“

Das Titelbild zeigt, wie sich die SED-Spitze 1952 eine Arbeiterdemonstration wünschte: Porzellanfresko am ehemaligen Haus der Ministerien in Berlin, heute Bundesfinanzministerium

Lesen Sie dazu den ersten Teil mit dem Titel: „Kampf der Geschichtsschreibung in Ost und West

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