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Dialogverweigerung statt europäischer Verständigung
Leipziger Buchmesse

Dialogverweigerung statt europäischer Verständigung

Leipziger Buchmesse 2023

Den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ hat in diesem Jahr die aus Russland stammende Lyrikerin Maria Stepanova erhalten. Die viel übersetzte Autorin lebt derzeit im deutschen Exil. Sie „verhilft dem nicht-imperialen Russland zu einer literarischen Stimme, die es verdient, in ganz Europa gehört zu werden“, so die Jury in ihrer Begründung.

Die 51 Jahre alte russisch-jüdische Autorin, gebürtige Moskauerin, wurde anlässlich der Eröffnung der diesjährigen Leipziger Buchmesse am Abend des 26. April 2023 für ihren Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ ausgezeichnet. Sie war nach eigenen Worten von der Entscheidung der Jury besonders beeindruckt und bewegt: Weil der Leipziger „Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ in einem „schwarzen Jahr Europas, in einem Jahr der Verwüstung, der Angst und des Verlustes, zum ersten Mal in seiner Geschichte für einen Gedichtband, für eine poetische Aussage verliehen wird“.

Was weniger überrascht, ist, dass den Preis wieder ein „Dissident aus dem Feindesland“ erhalten hat. Wie schon 2019 die russisch-US-amerikanische Autorin Masha Gessen für ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte“. Preisträgerin Stepanova sagte in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: „Allgemein aber können wir jetzt nicht auf einen Dialog hoffen. Erst muss der Krieg zu Ende sein. Die Ukraine muss gewinnen. Dann lässt sich das Gespräch vielleicht fortführen.“ Sie habe Verständnis, dass „ukrainische Autoren heute sagen, es ist ihnen im Moment nicht möglich, mit mir auf einer Bühne zu sitzen“.

Waffen für Europäische Verständigung

Die saßen in Leipzig meist unter sich – abgesehen von den Moderatoren – wie etwa am Freitag Kateryna Mishchenko (im Bild rechts) und Dmitrij Kapitelman in einer Runde am Stand des „Literaturbüros NRW“. Letzterer beklagte sich unter anderem darüber, dass auf den deutschen Beststellerlisten Bücher zu finden seien, „wo die Autoren uns erklärt haben, dass die Deutschen besser wissen, was Krieg ist und deswegen keine Waffen in die Ukraine gehen sollten“. Mishchenko bedankte sich, dass die Bundesrepublik eine Million Ukrainer aufgenommen habe – „das sind gerettete Leben“.

Diese antirussische und proukrainische Stimmung schwebte gewissermaßen durch die Messehallen und das Begleitprogramm „Leipzig liest“. Dazu trug auch der große Ukraine-Stand des Goethe-Instituts, gefördert von deutschen und ukrainischen Institutionen, in Halle 5 bei. Dort wurde unter anderem darüber diskutiert, was die Ukraine für den kulturellen Wiederaufbau braucht – während Kiew derzeit einen nationalistischen Kreuzzug gegen alles Russische im Lande führt.

Fast wurde damit überlagert, dass Österreich das Gastland der diesjährigen Buchmesse war, wovon ein großer Gemeinschaftsstand sowie zahlreiche kleinere von Verlagen in Halle 4 kündete. Dazu passte, dass am Messeeingang die Flagge des Gastlandes nicht neben der des Gastgeberlandes wehte, sondern die der Ukraine.

Auf der Suche nach russischen Spuren

Der Preis an Stepanova war Anlass, in den Hallen und Veranstaltungen der Leipziger Buchmesse nach Spuren Russlands und der russischen Literatur zu suchen. Im Allgemeinen leistet Literatur in ihren besten Formen einen Beitrag zur Verständigung und baut so Brücken. Also könnte die Leipziger Buchmesse sich als Brückenbauer in diesen Zeiten der politisch motivierten totalen Entfremdung von Russland zeigen. Sie könnte sich als eine Instanz verstehen und zeigen, die zu einem friedlichen Zusammenleben der Länder Europas beiträgt, eben zur Europäischen Verständigung.

Doch die Suche nach russischen Verlagen war ebenso erfolglos wie die nach Autoren aus Russland, die nicht als „Dissidenten“ bekannt sind. Schon am Eingang zur Messe fiel auf, dass in dem Wald der Flaggen der auf der Messe vertretenen Länder eine fehlt: die weiß-blau-rote Trikolore Russlands. Dafür war ganz vorne neben der deutschen Flagge die ukrainische gehisst worden. Andreas Knaut, Pressesprecher der Leipziger Messe, erklärte auf die Frage, warum Stände russischer Verlage kaum zu finden waren, dass Verlage aus Russland sich nicht angemeldet hätten. Die Flaggen würden die Länder zeigen, die auf der Leipziger Buchmesse vertreten sind. Und Knaut betonte mit Hinweis auf Preisträgerin Stepanova, dass sehr wohl russische Autoren vertreten seien.

Die Frage zu der Überrepräsentanz der Ukraine und ukrainischer Autoren sowie den Gründen dafür blieb unbeantwortet. Ebenfalls die, ob es ähnliche Fälle bei vorherigen Kriegen gab – wie dem der Nato 1999 gegen Jugoslawien, dem gegen Afghanistan, gegen den Irak, gegen Libyen und andere.

Wer sich in diesem Jahr auf der Buchmesse in den Hallen und zwischen den Ständen orientieren wollte, musste erstmals auf den bis 2019 bewährten Messekatalog verzichten. Dafür gab es ersatzweise eine leidlich funktionierende Buchmesse-App fürs Smartphone. Deren Suchergebnisse für die Stichworte „Russland“ und „russisch“ fielen dürftig aus. Die drei Treffer waren dann bis auf den zu den deutschen Autoren aus Russland auch noch falsch.

Im Zweifelsfall „Putin-Versteher“

Dafür half der Zufall, das Buch „Der gute Russentisch“ aus dem Berliner Transit-Verlag zu entdecken, ein „faszinierendes Mosaik der Kulturszene und des alltäglichen Lebens in der ehemaligen Sowjetunion von der 1920er Jahren bis heute“.

Am Stand des „Bayrischen Kulturzentrums der Deutschen aus Russland“ (BKDR) präsentierte Artur Böpple unter anderem das Buch „Die Republik der Wolgadeutschen“ des Historikers Arkadi German. Immer wieder komme es vor, dass Menschen, die nicht wissen, wer die Russlanddeutschen sind, sie als „Putin-Versteher“ bezeichneten, sagte Böpple.

Am Stand „Deutsche Autoren aus Russland“ bestätigte ein Mitarbeiter der Moskauer Deutscher Zeitung (MDZ) die auf der Messe kursierende Information, dass der Chefredakteur der MDZ, Igor Beresin, kein Visum für die Buchmesse bekam. Das tat er im besten altschwäbischen Dialekt seiner einst nach Russland eingewanderten Vorfahren. Der kleine Stand gehörte zu den wenigen russischen Spuren auf der Buchmesse.

„Nicht jeder Russe ist garstig“

Dazu zählte auch der, an dem sich der Berliner Verlag Wostok (Der Osten) präsentierte. Dieser gibt neben der gleichnamigen Zeitschrift mit „Informationen aus dem Osten für den Westen“ Reiseführer zu russischen und anderen Regionen in ehemaligen Sowjetrepubliken sowie Bücher auch russischer Autoren heraus. „Wostok“-Redakteur Peter Franke erzählte, dass nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine eine Reihe der Abonnenten gekündigt hätten. Sie hätten mehr von der etablierten Sicht auf die Vorgänge in der Ukraine erwartet. Doch die Zeitschrift stelle sich nicht auf eine Seite, betonte Franke. Kopfschüttelnd kommentierte er die politische, mediale und gesellschaftliche Abkehr in Deutschland von Russland. Das mache es für den kleinen Verlag aus Berlin zunehmend schwerer, der aber nicht aufgeben wolle.

Ein weiterer Zufallsfund in Messehalle 5 war der Stand von Reinhard Scheffler. Der Enthusiast aus Sachsen-Anhalt stellte tatsächlich vier Bücher aus, in denen er neben einem mit 1.000 Textstellen aus allen Werken von Fjodor Dostojewski unvollendet gebliebene Werke des Schriftstellers zu Ende geschrieben hat. Eines davon ist das Buch „Njetotschka Neswanowa“, dessen ersten Kapitel Dostojewski in Jahren 1848/49 in der Petersburgen Zeitung veröffentlichte. „Nicht jeder Russe ist garstig“, stand auf dem kleinen Werbezettel, den Scheffler verteilte.

Toxisches Russland

Nicht einmal russische Klassiker waren ansonsten bei anderen Verlagen zu finden. Dafür umso mehr gerade bei großen Verlagen wie C.H. Beck, Rowohlt oder Suhrkamp eine ganze Reihe von Büchern, die unter anderem das heutige Russland als „toxisch“ und die russische Politik als „Putins Revanche“ beschreiben sowie die angebliche „Moskau-Connection“ in der bundesdeutschen Politik blosslegen wollen. Ebenso solche, die die ukrainische Sicht unhinterfragt wiedergeben. Dazu gehörte unter anderem „Z – Kurze Geschichte Russlands, von seinem Ende her gesehen“ von Olaf Kühl, erschienen bei Rowohlt Berlin. Der erklärte am Samstag, 29. April, in einer Gesprächsrunde der 3sat-Sendung „Kulturzeit“ auf der Messe unter anderem, er wünsche sich, dass Russland durch den Krieg in der Ukraine untergehe wie einst die Sowjetunion durch den in Afghanistan.

Diese Veranstaltung zeigte wie die mit anderen deutschen Autoren ähnlichen Kalibers und solchen aus der Ukraine, dass statt Verständigung leider vorrangig Hass, Hetze und Abschottung gegen Russland auf dem Buchmesse-Programm standen. Doch es gab auch einzelne Gegenstimmen: Einer der vertretenen österreichischen Verlage war Promedia aus Wien. „Kriegsfolgen – Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert“ heißt eines seiner aktuellen Bücher.

Herausgeber Hannes Hofbauer stellte es gemeinsam mit Medienwissenschaftlerin und Mitautorin Sabine Schiffer am Samstag vor. Schiffer setzt sich in ihrem Buchbeitrag mit dem „Narrativ von den Guten und Bösen“ und den Grundsätzen der Kriegspropaganda auseinander. Die Autorin sagte, dass sie als Propagandaforscherin die „Zeitenwende“ bereits im Jahr 1999 ausmachte, als die Nato Jugoslawien angriff und bombardierte, um angeblich die Unabhängigkeit des Kosovo zu sichern. „Ich sage seitdem immer, dass wir uns ganz aktuell im Jahr 24 der Neuen Weltkriegsordnung befinden“, so die Medienwissenschaftlerin.

Kriegstreibende Medien

Am Tag zuvor hatte ausgerechnet der ehemalige Generalinspekteur der Bundeswehr Hans Peter von Kirchbach seine Autobiographie „Herz an der Angel“ vorgestellt. Er war von 1999 bis 2000 der oberste Bundeswehr-Militär. Der Ex-General sagte, der Krieg in der Ukraine zeige, dass die Bundesrepublik wieder mehr für ihre Verteidigung tun müsse. Im Interview betonte er, es komme jetzt wieder darauf an, deutlich abzuschrecken. Nur so könne der Frieden gesichert werden. Er halte auch den Nato-Krieg gegen Jugoslawien noch heute für richtig und gerechtfertigt.

An den völkerrechtswidrigen Nato-Krieg 1999 erinnerte auch der Journalist Arnold Schölzel am Samstag, als er das gemeinsam mit Reinhard Lauterbach veröffentliche Buch „Der Schwarze Kanal. Ukraine-Feldzug deutscher Medien 2014 – 2022“ vorstellte. Darin sind die Kolumnen der beiden Autoren in der Tageszeitung „junge Welt“ nachzulesen. Wenn sich eine ganze Presselandschaft einem Motto unterordnet, „dann wird es schwierig, dort noch abgebildete Realität zu finden“, stellte Schölzel zu den fast einheitlich kriegstreibenden deutschen Medien fest.

Das hier Beschriebene ist natürlich nur ein kleiner, wenn auch bezeichnender Ausschnitt aus dem erneut insgesamt bunten, vielfältigen und kaum überschaubaren Programm der diesjährigen Buchmesse mit mehr als 2.000 Ausstellern und Verlagen sowie 3.000 Veranstaltungen an vier Tagen. Am Samstag sorgten Besuchermassen für verstopfte Gänge zwischen den einzelnen Hallen. Dazu trug die gleichzeitige „Manga-Comic-Con“ bei, die für einen Großteil der über 270.000 Messebesucher gesorgt haben dürfte. Bunt maskierte und kostümierte Menschen, vor allem jüngeren Alters, waren in die Phantasie-Identitäten ihrer Comic- und Manga-Helden geschlüpft. „Hauptsache, sie ziehen nicht in den Krieg“, sagte jemand, der das Treiben beobachtete. Dabei übersah er aber, dass viele der Phantasiefiguren mit Waffen ausstaffiert waren und viele der Comic-Vorlagen von Kriegern handeln.

So waberte die kriegerische Stimmung wie ein dämonischer Nebel durch die Gänge, Hallen und Veranstaltungsorte der Leipziger Buchmesse. Fast wie aus der Zeit gefallen wirkten da am Stand des Schulbuch-Verlages Cornelsen die tatsächlich ausgestellten Russisch-Lehrbücher „Диалог“ (Dialog). Nicht nur, dass sie die russische Sprache vermitteln, sondern das auch noch mit einem Wort als Titel, von dem auf der diesjährigen Buchmesse in dem Zusammenhang kaum die Rede war.

Aktualisiert am 3. Mai 2023, 11:48 Uhr

Fotos: Tilo Gräser (3 und 4), Endre Pápai (1, 2 und 5)

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