ressorts.
Alle Türen nach Osten zu und die nach Westen auf
EU-Beitritt der Ukraine

Alle Türen nach Osten zu und die nach Westen auf

Ostinstitut Wismar: Tagung zu EU-Beitritt der Ukraine

Die Ukraine will um jeden Preis in den Westen und trennt sich dafür von allen Verbindungen zu Russland. Dazu gehört die avisierte EU-Mitgliedschaft. Wie weit das Land trotz Krieg auf diesem Weg ist, war Thema einer Veranstaltung in Berlin.

„Die Ukraine ist ein großes Land mit großer Fläche, mit großer Bevölkerungsanzahl und mit diesem großen Potential sind wir attraktiv für Investitionen.“ Das sagte Volodymyr Emelianenko, Professor an der Nationalen juristischen Jaroslaw-Mudry-Universität in Charkiw, bei einer Tagung des Ostinstituts Wismar am Donnerstag, dem 4. Mai, in Berlin.  Die Ukraine sei kein Bettler.  

Sie ist seit dem 24. Juni 2022 Beitrittskandidat zur Europäischen Union. Welche Bedingungen wird die EU im Hinblick auf Demokratie und Rechtsstaatlichkeit stellen und kann die Ukraine diese erfüllen? Das waren die zentralen Fragen bei der Tagung.

Das Ostinstitut Wismar wurde 2009 gegründet und hat sich jahrelang mit dem rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen Innenleben Russlands befasst. Darauf wies Andreas Steininger, Gründungsmitglied des Instituts, hin, als er die Veranstaltung eröffnete. Nun rücke die Ukraine aus der Sicht von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, wirtschaftsrechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in das Zentrum der Aufmerksamkeit, „nachdem das Land – auch als Reaktion auf den russischen Überfall – am 24. Juni 2022 den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhielt.“

Auf dem Weg in die EU

Zur Erinnerung: Als Basis für den Beitrittskandidatenstatus eines Landes in die EU gilt das Assoziierungsabkommen. Im Fall der Ukraine ist das Abkommen seit dem 1. September 2017 wirksam. Genau dieses EU-Assoziierungsabkommen gab 2013 den Anstoß, dass der Konflikt um die Ukraine offen zwischen dem Westen und Russland ausgetragen wurde. Anders als Russland bestand die EU auf einem Entweder-Oder. Der damalige ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch sollte sich zwischen Ost und West entscheiden – was er auf dem EU-Gipfel in Vilnius im September 2013 nicht tat. Dafür wurde er im Februar 2014 aus dem Amt gejagt. Das weitere Geschehen ist Geschichte und führte in den aktuellen Krieg in und um die Ukraine.

Für die Wirtschaft entscheidender Aspekt ist laut dem Ostinstitut Wismar die Frage, „welche rechtliche Angleichung notwendig ist, wenn die Ukraine irgendwann einmal in die EU aufgenommen werden sollte“, so Steininger. Zu den offenen Fragen gehören: die notwendige Korruptionsbekämpung, die Trennung des Staates von mächtigen Akteuren der Wirtschaft durch die so genannte „De-Oligarchisierung“ sowie eine notwendige Dezentralisierung der Macht. Dazu startete das Institut vor einigen Monaten ein Projekt mit ukrainischen Universitäten. Bei der Tagung stellten Professorinnen und Professoren aus dem Land ihre Arbeitsergebnisse vor. Auch Abgeordnete und Vertreter der Ukrainischen Politik und der EU wurden zugeschaltet.  Ein weiteres Schwerpunktthema war Zentralasien, insbesondere Kasachstan und Usbekistan als alternative Standortmöglichkeit für deutsche Unternehmen, die bisher in Russland tätig waren.

Von der Attraktivität der Ukraine ließ sich die Deutsche Bahn bereits im Jahr 2020 in Davos überzeugen. Dort betonte Wolodymyr Selenskij, sein Land verfüge über alle Ressourcen, die für einen Erfolg notwendig seien. Und erklärte die Absicht, 500 Staatsunternehmen im Jahr 2020 unter erheblichen Steuerentlastungen zu verkaufen.

Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung?

„Es gibt natürlich viele Probleme“ im ukrainischen Staatssektor, sagte Emelianenko. Es gehe hier um die „Reformierung“ ukrainischer Unternehmen, die noch nach alten sowjetischen Methoden ausgerüstet sind oder gehandelt haben. Bereits vor fast 20 Jahren gab es laut dem Professor eine große Privatisierungswelle. Sie sei aber nicht fortgeführt worden, weil die Korruptionsgefahr groß gewesen sei.

Die Ukraine sei erst in den jüngsten Jahren wieder zu Privatisierungen zurückgekehrt, da sie „inzwischen viele Fortschritte in der Korruptionsbekämpfung verzeichnen kann“. Sie habe nicht nur viele Gesetze beschlossen, sondern habe ein neues Verständnis davon bekommen, was Korruption sei. Durch diesen Paradigmenwechseln würden sich die Gesetze ändern, nicht andersrum. Es blieb nun unklar, woher dieses neue Verständnis entstanden komme.

Durch den Privatisierungsprozess werden staatliche Unternehmen zumindest zum Teil zu privaten Unternehmen. Damit wolle die Ukraine zeigen, dass sie „offen für Investitionen und neue Standards“ sei. Und es sei kein Geheimnis, dass 2020 in Davos eine Absichtserklärung zwischen dem ukrainischen Staat und der Holding der Deutschen Bahn unterschrieben wurde.

Professorinnen aus der Ukraine stellen ihre Arbeitsergebnisse vor

Weichenstellung für die Deutsche Bahn

Das heiße nicht, dass der ukrainische Staat auf ein strategisch so wichtiges Unternehmen verzichtet, erklärte der Professor. Viel mehr würde er anerkennen, dass „die europäische Erfahrung der entwickelten Länder mit einer stabilen Demokratie nicht nur akzeptabel für uns sein, sondern tatsächlich implementiert werden kann“.

Die staatliche ukrainische Eisenbahn Ukrsalisnyzja (UZ) plane jetzt die Passagierzüge und die Güterzüge unter die Verwaltung der Deutschen Bahn zu stellen. Die Infrastruktur bleibe gänzlich im staatlichen Eigentum oder in Verwaltung der Ukraine. Das wäre bereits passiert oder wäre zumindest im Gange, hätte „der Krieg nicht angefangen“, sagte Emelianenko.

Eine vertiefte Partnerschaft vereinbarten im September 2022 in Berlin die Bahnchefs Richard Lutz und Oleksander Kamyshin in einem „Memorandum of Understanding“ (MoU). Der Vertrag sichert der UZ Hilfe beim Wiederaufbau nach dem Krieg zu. Er beinhaltet die Zusammenarbeit beim Ausbau von Güterverkehrskorridoren und Terminalkapazitäten und bietet der Ukraine umfangreiche Beratungsleistungen bei der Einführung europäischer Standards für den Bahnbetrieb und das Management.

Bei der Unterzeichnung des Vertrags betonte der ukrainische Bahnchef Kamyshin, die Neuausrichtung des europäischen Eisenbahnsystems ermögliche, die Abhängigkeit der ukrainischen Bahn „vom schädlichen Einfluss Russlands zu vermeiden“.

„Nützliche Probleme“ beim Getreideexport

Auf mögliche Diskrepanzen im EU-Integrationsprozess der Ukraine verwies ein Korrespondent des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) und nannte als Beispiel den Getreideexport aus der Ukraine in die Länder der EU. In Brüssel wurde vorige Woche nach deutlichem Gezerre ein Kompromiss mit Rumänien, Bulgarien, Ungarn, der Slowakei und Polen ausgehandelt, nachdem sie gedroht hatten, den Einfuhr der Landwirtschaftsprodukte aus der Ukraine bis Ende des Jahres zu verbieten.  Der RND-Korrespondent wollte wissen, wie so ein großes Agrarland in den EU-Markt integriert werden kann, ohne dass die EU-Länder, vor allem die östlichen, wo die Landwirtschaft traditionell eine große Rolle spielt, sich bedroht fühlen beziehungsweise benachteiligt werden.

Die Fakten und Sachlage müsse analysiert werden, so die Antwort, und auch, was für andere Interessen dahinterstecken. Die Einführung der landwirtschaftlichen Produkte aus der Ukraine in den EU-Markt ein Jahr lang könne aber jetzt schon als Testfeld betrachtet werden, um zu schauen, welche Auswirkungen das auf die einzelnen Akteure, auf die Preise und auf die Märkte hat.

Laut Dirk Schübel, Sondergesandter für Östliche Partnerschaft im Europäischen Auswärtigen Dienst, wird es nicht einfach, so ein großes Land, die „Kornkammer Europas“, zu integrieren. Es sei gar nicht so schlecht, dass einige „kleine Probleme“ jetzt schon auftauchen und diskutiert werden können. Durch „diesen kleinen Konflikt, diese kleine Diskussion“ wäre die EU später bei den Verhandlungen besser gerüstet.

Willkommener Atomstrom

Beim Thema Korruption ging es auch um die Oligarchie. Zwei große Bereiche nannte Vitalii Pashkov, Professor an der Nationalen juristischen Jaroslaw-Mudry-Universität Charkiw, in denen monopolistische Strukturen herrschen: die Energie- und Pharmasektor. In beiden Bereichen gebe es erhebliche Probleme mit der Korruption. Der Redner wies auch darauf hin, dass die Ukraine seit März 2022 mit dem europäischem Stromnetzt verbunden ist und Strom nach Europa liefert, auch nach Deutschland. Laut Wirtschaftwoche wird über 50 Prozent des ukrainischen Stroms in Atomkraftwerken erzeugt. Denn im Bereich der Dekarbonisierung bewege sich die Ukraine in einer anderen Logik als Deutschland. Sie betreibe Projekte mit Polen, Belgien und andern EU-Ländern in Hinsicht auf Erneuerung der Kraftwerke.

Trotz der Entwicklung der erneuerbaren Energien, die bis 2030 in der Ukraine 25 Prozent des gesamten Mix erreichen sollen, ist die Kernenergie der zentrale Bestandteil der kohlenstofffreien Energieerzeugung. Sie macht mehr als 50 Prozent des Stroms aus. Damit kann die Ukraine, die seit dem 16. März 2022 ihr Energienetz mit dem Verband Europäischer Übertragungsnetzbetreiber synchronisiert hat, zum Lieferanten von Strom für Deutschland werden.

Im Pharmasektor sieht Pashkov das Deutsche Apotheken Gesetz als Vorbild und hofft auf dessen Umsetzung in der Ukraine.  Er verweist auf bestehende Probleme bei der Gesetzgebung im Pharmasektor. Die Gesetze über Arzneimittel seien nämlich nicht sehr strikt. Das betrifft besonders das deutsche Unternemen Bayer, einer der zehn größten Lieferanten des Landes. Bayer verkaufe keine Arzneimittel, aber liefere Apothekenbedarf in jeder Hinsicht, darunter Nahrungsergänzungsmittel mit aktiven biologischen Wirkstoffen. Das gelte in Deutschland als Arzneimittel und dürfe in deutschen Apotheken nicht vertrieben werden. In der Ukraine ist das laut Pashkov ein bedeutender Bereich, der nicht so strikt reguliert wird. 

„Was passiert dann mit diesen Lieferungen?“, wollte er wissen. „Wir haben schon viele Richtlinien der EU-Gesetzgebung implementiert“, so der Professor und er hofft, „dass wir alle uns gegenseitig mit ein bisschen weniger Vorurteilen betrachten können“.

Trotz Krieg: attraktiv und sicher für deutsche Unternehmen

Nach dem Ukraine-Besuch des Bundeswirtschaftsministers Robert Habeck Anfang April dieses Jahres sei der Standort Ukraine für deutsche Unternehmen nicht nur attraktiv sondern auch sicher. Mitten im Krieg. Darüber berichtete unter anderen die Wirtschaftswoche Anfang April. Um deutschen Firmen unter diesen Bedingungen die Arbeit in der Ukraine schmackhaft oder überhaupt möglich zu machen, sichert die Bundesregierung deren Investitionen ab. Das geschieht im Fall der Ukraine seit Jahren – geht nun aber trotz des Krieges weiter. „Das machen wir normalerweise nicht“, sagte Habeck nach seinem Besuch in Kiew. „Aber hier tun wir das.“

Für die politische und wirtschaftliche Integration der Ukraine in die Europäische Union mache die Ukraine sehr viel. „Tatsächlich büßen Zivilisten ihr Leben für diese Werte.“ Das sagte die Rechtanwältin und Dozentin an der Universität Kiew Daryna Kravchuk am Donnerstag in Berlin.

Nach der Tagung sollten keine Zweifel mehr daran bestehen, dass für die Integration der Ukraine in die EU alles getan werde und nichts verschont bleibe. Das viel kritisierte und strenge Mediengesetz, das hauptsächlich Verbote und Einschränkungen enthält und alle Voraussetzungen für umfassende Zensur erfüllt, sorgt für die totale Abkopplung vom „Aggressorland“. Klar wurde auch, wie lang noch die To-do-Liste für die Ukraine ist. Von ukrainischer Seite wurde allerseits bekräftigt, wie viel bereits gemacht wurde und wie viel noch gemacht werde. Es wurde versprochen, in ein paar Monaten Probleme aus dem Weg zu schaffen, die die Ukraine seit Jahrzehnten nicht lösen konnte. Und das alles im Kriegsmodus.

Diesen Artikel teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Telegram

schwarz auf weiß unterstützen

Freiwilliges Zeitungs-Abo oder Einzelspende an:

IBAN: DE83 1005 0000 0191 2112 65
(BIC: BELADEBE)

Kontoinhaber: Flugwerk UG (haftungsbeschränkt)

oder hier PayPal –

Ein Abo ist freiwillig. Alle Inhalte sind ohne Bezahlung verfügbar.

ODER
alles von Paul Brandenburg

Spenden an Paul Brandenburg persönlich werden für alle seine Projekte verwendet: