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Krieg und Demografie im Vergleich
Ukraine

Krieg und Demografie im Vergleich

Schon vor dem Krieg ist die Bevölkerungszahl der Ukraine kontinuierlich gesunken. Der Krieg hat diese Entwicklung beschleunigt. Flucht ins Ausland sowie der Tod ganzer Jahrgänge von jungen Männer werden die demografische Situation des Landes nachhaltig verändern. Bemerkenswert ist dabei auch der Vergleich mit anderen Kriegen.

Als die Sowjetunion 1991 aufgelöst wurde, hatte der neue ukrainische Staat 51,5 Millionen Einwohner. Zwanzig Jahre später, vor dem russischen Einmarsch, waren es nur noch etwa 41 Millionen. Neben sinkenden Geburtenraten spielte dabei auch Abwanderung aus dem ökonomisch daniederliegenden Land eine wesentliche Rolle – einerseits in die EU, andererseits nach Russland, wo viele ukrainische Staatsbürger Verwandte haben und wo ab dem Amtsantritt von Wladimir Putin sich die Wirtschaft wieder stabilisierte, Reallöhne deutlich stiegen und das Sozialsystem wieder ausgebaut wurde.

Intensiviert hat sich die Migration aus der Ukraine nach Russland ab dem Maidan-Putsch 2014, und das aus zwei Gründen: Erstens fiel die Ukraine unter der Herrschaft der Nationalisten nun wirtschaftlich noch weiter zurück. Zweitens schikanierte das neue Regime das russischsprachige Drittel der Bevölkerung auch noch mit Sprachverboten und politischen Repressalien und beschoss die Städte der Donbass-Republiken acht Jahre lang mit Artillerie, wodurch auch nach Angaben der (dem Westen freundlich gegenüberstehenden) OSZE etwa 13.000 Zivilisten getötet wurden.

Vor Beginn der russischen Militärintervention waren damit schon sechs Millionen (überwiegend russischsprachige) ukrainische Staatsbürger in Russland ansässig. Seit Februar 2022 kamen noch einmal fast drei Millionen hinzu. Im Vergleich befinden sich in EU-Ländern Anfang 2023 etwa acht Millionen ukrainische Staatsbürger. Damit nicht verwechselt werden darf die Zahl der Grenzübertritte aus der Ukraine in die EU, die bei knapp 17 Millionen liegt, bei der aber Rückkehrer und Personen, die nach einer Rückkehr erneut ausgereist sind, nicht abgerechnet sind.

Zermürbungs- und Abnutzungskrieg

Anfang 2022 hatte die von der NATO hochgerüstete ukrainische Armee etwa 700.000 Mann, darunter etwa 210.000 in Kampfverbänden sowie Zehntausenden in den Einheiten der faschistischen Milizen wie Asow. Der russische Angriff wurde mit etwa 180.000 Mann vorgetragen. Da es zum militärischen Einmaleins gehört, dass man für einen Sieg über eine verteidigende Armee die doppelte bis dreifache Anzahl von Soldaten braucht, wird daraus klar, dass eine vollständige Besetzung der Ukraine oder gar ein Weitermarschieren nach Polen oder ähnliches, wie das in westlichen Medien dargestellt wurde, nicht das anfängliche Kriegsziel Russlands gewesen sein kann. Vielmehr hat man in Moskau wohl auf einen Sturz des Regimes in Kiew von innen gehofft (und sich damit verschätzt) oder man wollte eine Verhandlungslösung (Abtretung von Krim und Donbass, kein NATO-Beitritt) erzwingen. Das wurde allerdings von den Hardlinern in Kiew, die im März 2022 den eigenen Verhandlungsführer Denis Kireyev, der mutmaßlich an einem tatsächlichen Kompromiss interessiert war, auf offener Straße erschießen ließen, und von London und Washington verhindert.

In der Folge ging der militärische Konflikt in einen Zermürbungs- und Abnutzungskrieg über. Kritische westliche Experten vermuten ebenso wie der britische Geheimdienst mehr als 40.000 gefallene Russen. Auf der ukrainischen Seite reichen die Schätzungen weit höher. So geht etwa der ehemalige US-Offizier, Golfkriegsveteran von 1991 und Militärtheoretiker Douglas Macgregor von 150.000 toten und 35.000 vermissten Soldaten der ukrainischen Armee aus. Dazu kommen sicherlich hunderttausende Verwundete und Verkrüppelte. Scott Ritter, ehemaliger nachrichtendienstlicher Offizier des US Marine Corps, Veteran des Golfkrieges 1991 und danach Inspektor der UNSCOM-Mission im Irak, vermutet gar über 300.000 gefallene Ukrainer. Das bedeutet, dass von ganzen Jahrgängen junger Männer in der Ukraine große Teile vernichtet wurden.

Zehnte Rekrutierungswelle für Männer ab 17

Dass dem nationalistischen Regime die Soldaten ausgehen, zeigt sich immer deutlicher: Erstens ist die ukrainische Armee mittlerweile bei der zehnten Rekrutierungswelle angelangt, die nun auch Männer ab 17 beziehungsweise bis 60 Jahre umfasst (in russischen Medien gab es sogar schon Berichte über 16-jährige Kriegsgefangene). Zweitens werden nun offenbar, oft bei überfallsartigen Razzien, besonders systematisch Männer aus den Minderheitengebieten als Kanonenfutter rekrutiert, etwa unter den Ungarn in Transkarpatien (worüber sich die ungarische Regierung öffentlich beschwerte) oder im russischsprachigen Odessa. Drittens werden teilweise Kriegsgefangene, die man gerade aus Russland freigetauscht hat, sofort wieder an die Front geschickt, was nicht nur dem Kriegsrecht widerspricht, sondern sogar schon zu Aufrufen ukrainischer Mütter an Russland geführt hat, ihre Söhne nicht freizulassen. Viertens setzt die Ukraine offenbar hinter der Front vermehrt faschistische Sperrbataillone ein, um die Wehrpflichtigen zum Kämpfen zu zwingen.

All diese Entwicklungen werden in einer ukrainischen Nachkriegsgesellschaft zu schweren Zerrüttungen führen. Zum Vergleich: Die ungleich größeren USA hatten in Vietnam 58.200 Gefallene und 300.000 Verwundete, was für die US-Gesellschaft ein massives Trauma war.

Bis Mitte Februar 2023 wurden nach Angabe des Menschenrechtsbüros der UNO durch den Ukraine-Krieg 7.200 tote Zivilisten registriert. Die ukrainische Regierung nennt drei- bis vierfache Zahlen, was dem Propaganda-Ziel, Russland als besonders barbarisch hinzustellen, geschuldet sein dürfte. Nun kann es tatsächlich sein, dass nicht alle Toten offiziell erfasst wurden. Andererseits ist Kiew sicherlich sehr bestrebt, der UNO möglichst alle Fälle zu nennen.

Darüber hinaus muss man berücksichtigen, dass bei den toten Zivilisten sicherlich zahlreiche sind, die von ukrainischen Einheiten als menschliche Schutzschilde benutzt oder als angebliche „Kollaborateure“ (darunter etwa Lehrer, die einfach nur zeitweilig in russisch kontrollierten Gebieten weiter unterrichtet hatten) exekutiert wurden – und in manchen Fälle danach als Opfer der Besatzer den Medien präsentiert wurden. Jedenfalls gehört sicherlich ein deutlich überproportional großer Teil der zivilen Opfer zur russischsprachigen Bevölkerung in der Südostukraine, in deren Siedlungsgebieten der Krieg überwiegend stattfindet. Aber selbst wenn durch die russischen Angriffe um die zehntausend Zivilisten ums Leben gekommen sein mögen, sind das immer noch weniger als durch den jahrlangen Beschuss des Donbass durch die ukrainischen Truppen. Dass jeder einer zu viel ist, sehen die westlichen Medien meist nur bei der ersteren Gruppe.

Andere Art der Kriegsführung

Aber auch ein anderer Vergleich ist bemerkenswert: Um die zehntausend tote Zivilisten und etwa 180.000 gefallene ukrainische Soldaten bedeuten ganz andere Relationen als etwa beim US-amerikanischen Angriffskrieg gegen den Irak ab 2003. Dabei wurden nämlich etwa 10.000 irakische Soldaten getötet, aber mindestens 150.000 irakische Zivilisten (andere Studien gehen sogar von 500.000 oder 650.000 aus).

Diese völlig umgekehrten Verhältnisse haben mit der Art der Kriegsführung zu tun. Während die USA traditionell so lange alles plattbombardieren, bis sich in einem Gebiet oder Stadtviertel nichts mehr rührt oder rühren kann, und sie erst dann mit Bodentruppen einrücken, geht die russische Armee in der Ukraine offenbar anders vor. Sowohl die russische Führung als auch die einfachen Soldaten betrachten die Bevölkerung der Südostukraine als „die eigenen Leute“, die es zu befreien gilt. Deshalb wird bei der Eroberung von Städten wie Mariupol oder Sewerodonezk oft versucht, Wohnblöcke so zu beschießen, dass die in den Stockwerken verschanzten ukrainischen Soldaten getroffen werden und die Häuser auch ausbrennen, dass sie aber nicht einstürzen und die im Keller verborgenen russischsprachigen Zivilisten nicht verschüttet werden. Diese Art von Eroberung ist langsamer und kostet auch mehr Opfer in der eigenen Armee.

Und auch beim Beschuss von ukrainischsprachigen Städten handelt es sich nicht um Flächenbombardements von Wohnvierteln, sondern die russische Armee hat offenbar grundsätzlich die Infrastruktur im Visier. Das schließt natürlich nicht aus, dass trotzdem Wohnhäuser getroffen werden, durch Ungenauigkeit oder abgelenkt durch ukrainische Abwehrraketen. Es hat aber nichts mit den systematischen Angriffen auf die Zivilbevölkerung zu tun, wie das die USA in Korea mit 450.000 Tonnen Bomben plus 32.000 Napalm oder in Vietnam mit bis zu sieben Millionen Tonnen Bomben und 400.000 Tonnen Napalm getan haben. Sie haben damit in beiden Ländern Millionen Menschen getötet, jeweils zu 80 Prozent Zivilisten.

Eric Angerer ist Historiker, Journalist und Sportlehrer. Er unterstützte lange Zeit betriebliche Selbstorganisation von Beschäftigten in Industrie und Gesundheitswesen und war zuletzt im Widerstand gegen das Corona-Regime aktiv.

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