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Transhumanismus – Zwei Standpunkte zu einem kontroversen Thema
Sachbuch

Transhumanismus – Zwei Standpunkte zu einem kontroversen Thema

Der Mensch soll mit bio- und gentechnischen Mitteln leistungsstärker, produktiver und effizienter werden. Dafür steht der Transhumanismus, eine Strömung, die sehr umstritten ist. In einem neuen Sachbuch tragen zwei Autoren die Vorzüge und Gefahren dieser Ideologie vor.

Im Zuge der Corona-Krise hat der Begriff „Transhumanismus“ zwielichtige Bekanntheit erlangt. Seine Prominenz beruht unter anderem auf den technokratischen Aussagen des WEF-Chefs Klaus Schwab, der die Vierte Industrielle Revolution ausgerufen hat. Implantierbare Handys, Organe aus dem 3D-Drucker, Maschinen als Chefs: All das werde sich schon in den nächsten Jahren auf breiter Front durchsetzen, schreibt er in seinem gleichnamigen Buch. Für Transhumanisten wie Schwab stellt der Mensch nur eine mangelhafte Zwischenstufe der Evolution dar. Sie setzen sich dafür ein, ihn mit bio-, gentechnischen Mitteln oder durch eine Verschmelzung mit einer Maschine produktiver, effizienter und leistungsstärker zu machen, ja ihn sogar zu überwinden. Während die Befürworter in dieser Entwicklung sämtliche Vorteile für die menschliche Evolution sehen, beleuchten deren Kritiker die Gefahren, die sich im Verlust der Freiheit, Entfremdung von einem selbstbestimmten Leben oder in der Etablierung neuer totalitärer Strukturen zeigen.

Am Transhumanismus scheiden sich die Geister. Solchen kontroversen Themen widmet sich der Westend Verlag mit der Reihe „Streitfragen“. Sie soll „Lust am Selberdenken und dem Entwerfen einer eigenen Position wecken“, heißt es in der Vorbemerkung jedes Bandes. Es sei ein großes Gut und Zeichen von Freiheit, dass es andere Standpunkte gibt, die den eigenen in Frage stellen. „Nur so können Gedanken sich formen und umformen, nur so kann Neues entstehen, kann Gesellschaft wachsen und sich entwickeln.“ In der Reihe werden zu einem umstrittenen Thema zwei konträre Beiträge gegenübergestellt. Dabei soll es nicht um „Angriff oder Verteidigung“ gehen, weshalb die Autoren ihre Texte ohne Kenntnis des jeweils anderen verfassen.

In der Ausgabe zum „Transhumanismus“ tragen der Filmemacher, Autor und Publizist Philipp von Becker und der Philosoph Stefan Lorenz Sorgner ihre Sichtweisen vor. Letzterer gibt sich als blühender Verfechter der Idee, die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten überschreiten zu können. Der Transhumanismus, schreibt er in seinem Beitrag, „denkt den Menschen neu, nimmt Abstand zur vorherrschenden Überheblichkeit, zu allem Totalitären und Paternalistischen und sieht ihn als von einer Vielzahl von Zwängen befreites Wesen, das sich stets neu erfinden und modifizieren kann.“ Er gehe mit einem Fortschritt für die ganze Gesellschaft einher und führe gar in „eine neue Haltung der Bescheidenheit“.

 Morphologische Freiheit

Führen Kritiker immer wieder den Verlust der Freiheit an, wenn sie zu diesem Thema Stellung nehmen, behauptet Sorgner genau das Gegenteil: „Keine Idee hat die Ermöglichung der Freiheit so denkbar werden lassen wie der Transhumanismus.“ Diese sehr optimistische Sichtweise erläutert der Philosoph in der Folge, indem er auf die modernen bio- und gentechnischen Möglichkeiten verweist. Als zentraler Begriff fungiert in seiner Argumentation die morphologische Freiheit, „das Recht, die eigene Gestalt gemäß den eigenen Vorstellungen umformen zu dürfen“. Das könne zu einem Umdenken des vorherrschenden „Mensch-Umwelt-Verständnisses“ führen.

Die Vorzüge zeigen sich für Sorgner unter anderem in der Abkopplung der Sexualität von der Reproduktion. „Sexualität würde dann der Unterhaltung dienen“, schreibt er, „wohingegen die Reproduktion technisch realisiert wird, um auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit einer verbesserten Lebensqualität zu fördern.“ Wie sie aussehen könnte, veranschaulicht der Philosoph am Beispiel der „biologischen Uhr“, der einen gewissen Entscheidungsdruck auf Frauen ausübt. Mit neuen biotechnischen Mitteln gelingt es, ihn abzuschaffen, so Sorgner. Das wirke sich schließlich positiv auf die Karrieremöglichkeiten von Frauen aus: „Sie könnten sich ganz auf ihre Arbeit und die Ausübung ihrer Talente und Präferenzen konzentrieren, falls dies in ihrem Interesse ist, ohne befürchten zu müssen, keine Familie mehr gründen zu können.“

Sorgner verkennt in seiner Argumentation, dass der Druck der „biologischen Uhr“ nicht nur auf der Gebärfähigkeit beruht, sondern auch auf dem Wunsch, möglichst viel Lebenszeit mit dem eigenen Kind zu verbringen. Sie fällt jedoch kürzer aus, wenn eine Frau beispielsweise mithilfe der Technik erst mit 50 Jahren schwanger wird. In Sorgners Ausführungen vermischt sich die transhumanistische Ideologie mit woken Ideen, die als Unterbau dienen. Für den Philosophen zeigen sich die Vorteile des Transhumanismus darin, dass er dazu verhilft, „diskriminierende Strukturen zu überwinden und Pluralität, Solidarität und Nachhaltigkeit auf gerechte Weise zu fördern“. Moderne Technik wie etwa pränatale Eingriffe trage dazu bei, dass eine egalitäre und diverse Gesellschaft entstehe, eine ohne „Sexismus, Rassismus, Speziesismus und Heteronormativität“.

 Pränatale Modifikation erzeugt Rechtfertigungsdruck

Weit weniger optimistisch klingen die Aussagen von Philipp von Becker. In seinem Beitrag beleuchtet der Filmemacher die gefährlichen Folgen der Transhumanismus-Euphorie. Die von Sorgner eingeführte morphologische Freiheit erweise sich als Fantasiegebilde und verkehre sich in ihr Gegenteil. Die pränatale Modifikation des Erbguts ermögliche es Eltern, ihre Kinder nach eigenen Vorstellungen zu designen. Was aber, wenn diese keine Hochleistungssportler oder Modells werden wollten, fragt von Becker. Sie könnten sich zwar für einen anderen Beruf und andere Hobbys entscheiden, doch sie würden zunächst „mit der Erwartung und dem (Rechtfertigungs-)Druck ihrer Erschaffer und gegebenenfalls auch ihrer selbst aufwachsen, den genetisch optimierten Eigenschaften gerecht zu werden“.

Die Unfreiheit transhumanistischer Möglichkeiten zeige sich aber auch in einer anderen Form des Rechtfertigungsdrucks. Wenn die Eltern in der Lage waren, pränatal in das Erbgut einzugreifen, könnten ihre Kinder sie später dafür verantwortlich machen, bestimmte Eigenschaften nicht eliminiert oder bestimmte Eigenschaften nicht oder nicht gut genug programmiert zu haben. „Aus der vermeintlich freien Entscheidung der Eltern“, so von Becker, „würde somit ein indirekter Zwang, sich dem Modifikationsregime zu unterwerfen.“ Für den Filmemacher ist sogar nicht auszuschließen, dass die technischen Möglichkeiten der pränatalen Modifikation zu einer staatlich gesteuerten Menschenzucht führen. Die Folge wäre eine „totalitäre neue Sklavengesellschaft“.

 Neue Religion: Dataismus

An diesen Gedanken knüpft von Becker an, wenn er auf die Gefahren durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine eingeht. Die Aufzeichnungen über den einzelnen Körper und sein Verhalten bildeten einen weiteren Datenknotenpunkt innerhalb eines Datenkörpernetzwerks, das neue Formen von Machtausübung und Kontrolle fördere. Wenn schließlich auch noch die Künstliche Intelligenz vermehrt zum Einsatz komme, schaffe sie zugleich „die Idee des autonomen Individuums“ ab. Menschen würden zu Wesen, die ihr Leben nicht mehr gemäß den eigenen Wünschen führen, sondern bloß als Ansammlung biochemischer Mechanismen fungieren und von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden.

In Bezug auf den führenden Transhumanismus-Theoretiker Yuval Noah Harari sieht von Becker eine neue Religion im Entstehen – den „Dataismus“. Die Menschen seien darin nichts als Datenverarbeitungssysteme. Ihre einzige Funktion sei es, das „Internet der Dinge“ zu schaffen. Allerdings sei Religion immer ein psychischer Entlastungsanker: „Mit ihr kann das freie Denken abgegeben werden, und es können Gesetze befolgt werden, die von einer nicht hinterfragbaren und unsichtbaren Autorität kommen.“ Der programmierte Mensch soll Wirklichkeit werden, weil er der ideale Untertan sei, schließt von Becker seinen sehr überzeugenden und tiefgründigen Beitrag mit einem Verweis auf China ab. Sein Fazit klingt so alarmierend wie treffend: „Eine total kalkulierte Welt, eine Welt ohne offenes Ende, wäre eine tote Welt.“

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