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„Die Medizin findet dich“ – Psychotherapie aus dem Urwald
Gesundheit

„Die Medizin findet dich“ – Psychotherapie aus dem Urwald

Kirchengebäude der Santo-Daime Gemeinschaft São José.

In Zeiten von perfiden Angriffen auf das menschliche Immunsystem und einer systematischen medialen Verwirrung suchen viele Heilung für Körper und Geist abseits von Big Pharma. Zu Besuch in einem Santo Daime-Zentrum in Brasilien.

„Viva! Viva! Viva!”, brummen tiefe Stimmen in die Stille der hell erleuchteten Kirche. „Es lebe die Gesundheit, die Liebe, es leben die Kinder“, rufen etwa vierzig Männer in weißen feinen Anzügen. Schweiß bedeckt ihre Stirnen. Einige Körper schwanken. In einem Halbkreis aus mehreren Reihen stehen sie einer ähnlichen Anzahl von Frauen gegenüber. Auf deren Seite sieht es nicht anders aus. Die intensive spirituelle Arbeit der vergangenen zehn Stunden hat die Gesichter gerötet und ihre Augenlider schwer gemacht. Trotzdem wirken sie immer noch anmutig schön in ihrer Tracht aus weißem Kleid mit grünen Schärpen und der zierlichen Krone auf dem Kopf.

Aus Richtung der Toilettenräume tönt leidenschaftliches Würgen. Da beginnt eine helle Frauenstimme laut zu singen und wie auf Knopfdruck stimmen die Versammelten, von Jung bis Alt, mit ein. Alle Erschöpfung ist vergessen. Kraftvoll und harmonisch klingt der nächtliche Chor, der sich tranceartig in Bewegung setzt. Drei Schritte nach links, drei nach rechts, tanzen im Gleichtakt dutzende Füße über den blauen Kirchenboden. Im Zentrum steht ein Tisch mit einem Kreuz, darum sitzt eine Gruppe Musiker.

Die meisten der Anwesenden fokussieren hochkonzentriert das kleine Liederbuch in ihrer Hand, ein paar haben auch die Augen geschlossen. Man spürt, alle sind hingegeben an eine höhere Kraft im Raum, die sie bis in die Zehenspitzen durchdringt und mit der braunen Flüssigkeit im Glasgefäß auf einem schlichten Altar zu tun hat. Die Menschen sind Zeugen eines magischen Schauspiels, Eingeweihte in eine geheime Ordnung. Was von außen wie ein lebhafter Gottesdienst aussieht, ist für sie himmlischer Wahnsinn, ein ekstatisches Fest, irgendwo zwischen tiefstem Schmerz und höchstem Glück. Es ist ein Stadium, in dem Zeit und Raum verschwimmen, hundert Melodien zu einem einzigen Gebet werden. Es ist das heilige Ritual einer Gemeinschaft, die die Grenzerfahrung sucht, um Erkenntnis zu gewinnen: Santo Daime.

“Immer wie das erste Mal”

Anhänger der Santo Daime-Religion aus Brasilien schwören auf eine besondere Medizin: Die psychoaktiv wirkende Heilpflanze Ayahuasca, die Amazonasvölker verwenden. Im Ritual konsumiert, kann sie helfen, Antworten auf Lebensfragen zu finden, und sogar Krankheiten heilen, so heißt es. Im deutschen Mainstream gilt Ayahuasca aber als gefährliche Droge.

„Eine Santo Daime-Zeremonie fühlt sich immer wie das erste Mal an“, gesteht Neuma. Die ältere brasilianische Dame, die neben mir auf der Bank im idyllischen Vorgarten ihres Hauses sitzt, ist seit dreiunddreißig Jahren Religionsmitglied. Mit ihrer Familie lebt sie im spirituellen Zentrum São José auf der brasilianischen Halbinsel Florianópolis. Seit seiner Gründung 1996 ist es zeremonielle Veranstaltungsstätte für Anwohner und Besucher aus aller Welt. Organisiert werden unter anderm Schwitzhütten-Treffen, Kakao-Zeremonien und verschiedenste kulturelle Aktivitäten.

Kern der Zusammenkünfte bilden die Santo Daime-Sitzungen, die zweimal monatlich im Kirchengebäude der Gemeinschaft stattfinden. So auch vergangene Samstagnacht. Entspannt blickt Neuma ins dichte Grün der Hügel, von wo aus man am Horizont ein Stück Meer erspähen kann. Aus ihrem Gesicht spricht Lebenserfahrung und tiefe Verbundenheit zu diesem Ort.

Aber, was ist Santo Daime? Laut deutschen Mainstream-Medien handle es sich um eine fragwürdige „Rauschgift-Sekte“ (https://taz.de/Grossaktion-gegen-Rauschgift-Sekte/!1232682/), die mit gefährlichen Drogen hantiere. Ist da etwas dran? „Santo Daime“, erklärt Neuma, „ist der Name einer Glaubensgemeinschaft, die bei ihren Ritualen die psychoaktive Heilpflanze Ayahuasca konsumiert“. Sie deutet zu einem unscheinbaren Blätterstrauch in der Ecke des Gartens und beginnt zu erzählen.

Wissen aus dem Urwald

In den 1920er-Jahren arbeitet ein junger afrobrasilianischer Soldat namens Raimundo Irineu Serra auf einer Kautschukplantage im Bundesstaat Acre. Eines Tages hört er von einem geheimnisvollen Tee, den benachbarte Amazonasvölker bei nächtlichen Ritualen einnehmen. Das Getränk soll dazu dienen, mit Geistern und Ahnen in Kontakt zu treten, und könne sogar Krankheiten heilen, wird gemunkelt.

Neugierig nimmt der gläubige Christ Kontakt zu den Eingeborenen auf und probiert schließlich selbst den „Zaubertrank”. In einer Vision empfängt Serra daraufhin seinen Lebensauftrag: Er soll Ayahuasca in Daime umbenennen und eine neue Religion gründen, um das Wissen um die Heilpflanze weiterzugeben. Er empfängt außerdem eine Reihe von Hymnen und Instruktionen zur Ausführung der Daime-Rituale (trabalhos).

Eine Freundesgruppe um Serra beginnt nun, sich regelmäßig zu treffen und unter der Wirkung von Ayahuasca die heiligen Hymnen zu rezipieren. Bald bilden sich größere Gemeinschaften und immer mehr Menschen empfangen sakrale Daime-Lieder. Die gesammelten Hymnen sind bis heute das Fundament des Glaubens. Sie thematisieren zentrale Lebensfragen und enthalten viele Bitten, zum Beispiel nach Liebe, Gesundheit oder Licht. Daher stammt auch der Name „Daime“ – Portugiesisch für „Gib mir”.

Mit über zehntausend Mitgliedern und Kirchen auf der ganzen Welt ist Santo Daime die bekannteste Religion, die den indigenen Ayahuasca-Brauch übernommen hat. Sie ist zwar in erster Linie christlich, aber vereint beispielsweise auch afroamerikanische oder esoterische Elemente. „Hinter allen Religionen, steht die gleiche universelle göttliche Kraft”, sagt Neuma. Deswegen spiele es bei den Daime-Ritualen keine Rolle, welcher Glaubensrichtung ein Mensch angehört oder ob er Atheist sei. Und sie betont: „Keiner ist ein Heiliger, auch nicht Religionsgründer Serra.”

Heilmittel oder riskante Droge?

Seit Jahrhunderten nutzen südamerikanische Völker Ayahuasca, um in Verbindung mit „übernatürlichen Wesen“ zu treten, Erkenntnisse zu erlangen und Heilung zu erfahren. Die alten Inka nannten das sakrale Getränk deshalb aya-waska. Übersetzt bedeutet das etwa „Liane der Geister“. Seine Wirkkraft bekommt es, indem zwei Pflanzen mehrere Tage lang aufgekocht werden: Die Ayahuasca-Rebe (Banisteriopsis caapi) und der Chacruna-Strauch (Psychotria viridis), der Dimethyltryptamin (DMT) enthält, das stärkste Halluzinogen der Welt. Dabei aktiviert die Ayahuasca-Rebe sozusagen das DMT der Chacruna.

Schon ein Schnapsglas des bitteren, braunen Suds kann tiefgreifende Bewusstseinsveränderungen auslösen, die viele Stunden anhalten. Aus Sicht der Schamanen wirkt dann eine mächtige Pflanzenseele als spiritueller Lehrmeister im Körper und in der Seele des Menschen. Viele schildern, dass sie während eines Rituals Visionen von fantastischen Welten, Wahrnehmungen von Energiefeldern hatten oder autobiografische Momente wiedererlebten. Häufig wirkt auch der Hörsinn verstärkt und das Zeitgefühl verschoben. Auf der anderen Seite kann es zu Erbrechen, Schweißausbrüchen, Schwindel und Durchfall kommen, weshalb nicht wenige Konsumenten nach Einnahme erst mal zur Toilette rennen.

Spirituell gesehen sind diese unangenehmen körperlichen Effekte keine Nebenwirkungen, sondern Teil der kurativen Wirkung. Der Körper wird sozusagen erst einmal einem kräftigen Reinigungsprozess unterzogen. Aus dieser Perspektive kann man auch verstehen, weshalb Santo Daime-Mitglieder Ayahuasca nicht als Droge, sondern als Medizin bezeichnen. Denn mit konventionellen Partydrogen, bei denen der Spaßfaktor in Vordergrund steht und die oft abhängig machen, hat die Substanz wenig gemeinsam. Bis heute gibt es keine Hinweise auf ein Suchtpotenzial von Ayahuasca.

Ganz im Gegenteil hat sich gezeigt, dass die Substanz bei der Therapie von Depressionen und Suchtprobleme helfen kann, vorausgesetzt kompetente Ärzte begleiten den Prozess. Bei Eigentherapien ist Vorsicht geboten, denn wird Ayahuasca mit Schulmedizin kombiniert, kann der Schuss nach hinten losgehen. Zwar sind Horrorgeschichten von Todesfällen durch Ayahuasca Einzelfälle und augenscheinlich Teil des medialen Feldzugs gegen natürliche Heilmittel, aber ein Restrisiko bleibt. Deswegen gilt unter Erfahrenen die Regel, niemanden zum Ayahuasca konsumieren einzuladen. Der Impuls dazu muss vom Menschen selbst kommen.

„Nicht du suchst die Medizin, sondern sie findet dich”, meint der 35-jährige Potiguara aus Florianópolis. Während einer Fahrradreise durch Südamerika trat die Heilpflanze in sein Leben und half ihm aus einer schweren Depression. Schlüssel zur Heilung war für ihn eine gesteigerte Selbstreflexion während der Rituale, die ihn lehrten, seine eigenen Überzeugungen und Verhaltensweisen besser zu verstehen und dadurch „als Mensch zu wachsen“. Ein ganzes Jahr verbrachte er in einer Santo Daime-Gemeinschaft im tiefsten Dschungel.

„Ayahuasca heilte mich von einer Depression“

Capoeira-Band und Tänzer am Tag nach der Zeremonie. Foto: Ronja Palmer
Capoeira-Band und Tänzer am Tag nach der Zeremonie. Foto: Ronja Palmer

Auch die 31-jährige Karina aus São Paulo berichtet von einer Heilung durch eine Santo Daime-Sitzung. Besorgt wegen einer anstehenden Operation im Unterleib, bat sie den Ayahuasca Pflanzengeist um Hilfe. Auf wundersame Weise war dann beim nächsten ärztlichen Check der gefährliche Abszess verschwunden.

Viele Frauen, darunter Ana C. schwören auf die unterstützende Wirkung von Ayahuasca während der Schwangerschaft und der Geburt. Ihre vier Kinder hat die Rechtsanwältin unter Einnahme der Pflanzenmischung zur Welt gebracht. In Brasilien ist das kein Problem, weil die Verwendung seit 1992 legal ist.

In den meisten Ländern ist die Substanz aber verboten, nach dem Betäubungsmittelgesetz auch in Deutschland. In wenigen Ländern wie Spanien oder den USA herrscht eine Grauzone. „Ayahuasca ist Medizin und sollte weltweit entkriminalisiert werden“, sagt Ana. Sie findet es absurd, dass Santo Daime-Zeremonien in Deutschland mit Polizeieinsätzen enden, während es in Teilen Brasiliens sogar für Politiker üblich ist, Ayahuasca zu trinken.

Laut Neuma erweitert sich bei einer Daime-Zeremonie unser spirituelles Bewusstsein. Dadurch können wir Traumata unserer Vorfahren auflösen und Dinge loslassen, die uns in unserer Entwicklung behindern. Außerdem regt es zur Auseinandersetzung mit den elementaren Lebensfragen an: Woher komme ich? Welcher Weg ist mir bestimmt? Welche Aufgaben habe ich in diesem Leben? Sie selbst hat durch Ayahuasca erkannt, dass „zur Welt kommen und sterben im Grunde dasselbe ist“ und dadurch ein tieferes Vertrauen in den Kreislauf des Lebens gewonnen.

Aber die alte Brasilianerin stellt auch fest: „Jedes Ritual ist ein Mysterium“. Denn Art und Intensität einer Ayahuasca-Erfahrung hängen von der Intention und der spirituellen Bereitschaft einer Person ab. Aus diesem Grund wird ein sensationshungriger Tourist auf der Suche nach dem nächsten Trip wahrscheinlich nur Unwohlsein oder gar keine Wirkung verspüren. Während ein Mensch, der sich mit innerer Bereitschaft, Respekt und ehrlichen Herzensanliegen an den Pflanzengeist wendet, hilfreiche Botschaften und Inspiration für den eigenen Lebensweg geschenkt bekommen kann.

Ein Santo Daime-Ritual ist sicher nicht für jedermann. Es ist kein lockeres Zusammensein, sondern intensive geistige und körperliche Arbeit. Doch können Teilnehmer in den Folgetagen, Monaten, oder sogar Jahre danach, positive Effekte spüren. Für viele ist es gar ein Start in ein neues Leben. Am Tag nach einer Sitzung darf aber erstmal die Seele baumeln. Auch in São José. In gemütlicher Runde mit Livemusik und Kuchen können am Sonntag die Erlebnisse der Nacht davor reflektiert werden.

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