ressorts.
Madeira 2021 oder die Reise ins Hochrisikogebiet
Kurzgeschichten-Reihe: Corona-Schicksale

Madeira 2021 oder die Reise ins Hochrisikogebiet

Foto: Pixabay, Alexandra Koch

Unter dem Titel „Corona-Schicksale“ hat pb: schwarz auf weiß eine Reihe der Krisen-Aufarbeitung in literarischer Form gestartet. Jeden Sonntag erscheint ein fiktionaler Text, der menschliche Abgründe, politische Willkür und furchtbares Leid der Maßnahmenzeit thematisiert. Die Leser können sich an diesem Projekt beteiligen und eigene literarische Texte einreichen (redaktion@pbschwarzaufweiss.de). Wenn diese inhaltlich und formal passen, wird sie die Redaktion zeitnah veröffentlichen. Heute wird die Reihe mit einer Kurzgeschichte von Zohra fortgesetzt. Sie erinnert an eine Zeit, als ein Corona-Test für Reisen verpflichtend war und Ängste auslöste, den Urlaub in Quarantäne verbringen zu müssen.

Endlich raus aus diesem Wahnsinn. Heute geht es ab auf die Blumeninsel. Wandern, Schwimmen, die Natur genießen, einfach zur Ruhe kommen. Da wir beide keinen 2G-Nachweis haben, mussten wir in der Madeira-Safe-App einen 48 Stunden alten negativen PCR-Test hochladen. Jochen hatte aber keine Lust, die 100 Euro auszugeben, und wollte es stattdessen darauf ankommen lassen. Was hätte ich dagegen tun können? Schließlich ist es seine Nase. Mein Ergebnis gestern war negativ. Gottseidank. Sonst hätten wir den Urlaub meinetwegen stornieren und die schönste Zeit des Jahres in häuslicher Quarantäne verbringen müssen.

Ich musste mir außerdem extra vier Wochen Urlaub nehmen, um im Anschluss die 14 Tage Quarantäne einzuhalten, da Madeira aktuell ein sogenanntes Hochrisikogebiet ist. Damals bei der Buchung war das noch nicht der Fall. Ganz schön ungerecht, wie ich finde. Denn mittlerweile ist doch bekannt, dass die Injektionen keine sterile Immunität hervorbringen. All die faulen Kompromisse eingehend, geht es heute los – zu unserer Lieblingsinsel. Als wir in Frankfurt abheben, empfinde ich tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich gleich weit, weit weg bin von diesem Irrenhaus, in dem ich mittlerweile lebe. Der alltägliche Wahnsinn, der um sich greift, ist allgegenwärtig, umgibt jede Zelle meines Körpers, jeden Gedanken, jede Bewegung, jeden Schritt, jeden Atemzug unter der Maske. Viel zu lange sehne ich diesen Tag schon herbei.

Während der fünf Stunden im dicht gedrängten Flugzeug blicke ich in angsterfüllte Augen. Das ist das Einzige, was mir geblieben ist von den Gesichtern der Menschen. Die Augen sind misstrauisch, unsicher, viele auch leer. Jochen bestellt sich fortlaufend Kaffee und Snacks, um die Maskenpflicht zu umgehen. Mir ist es ziemlich unangenehm, weil der Mann neben ihm, ihn schon die ganze Zeit böse anschaut. Jochen ignoriert das, und ich beneide ihn für diese Gleichgültigkeit und seinen Mut. Kurz vor dem Landeanflug in Funchal gibt die Crew durch, dass wir uns jetzt wieder alle brav anschnallen müssen – mit hochgeklappten Tischen und Masken. Die siebtgefährlichste Landebahn der Welt verursacht bei mir jedes Mal nasse Hände und ein Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Doch dieses Mal weiß ich nicht, welche Angst größer ist – die vor der Landung oder die vor der Ankunft in Funchal. Was erwartet uns dort?

Am Flughafen angekommen, müssen wir durch getrennte Ausgänge gehen – ich durch den grünen und Jochen durch den roten. Er wird direkt abgefangen und muss zum PCR-Test. Er bekommt einen QR-Code, mit dem er heute Nacht ab 02:00 Uhr das Ergebnis abrufen kann. Im Anschluss daran steigen wir mit anderen Hotelgästen in den Transferbus und werden zum Hotel gebracht. Auf dem Weg dorthin zaubert mir die Blumeninsel unter meiner Maske ein Lächeln ins Gesicht. Wir fahren entlang der steinigen Küste mit ihren wunderschönen grünen Hängen und der rauen See. Durch das Fenster kommt die frische Luft hinein, und ich versuche wenigstens ein Bisschen von Ihr einzuatmen, indem ich heimlich an meiner Maske herumziehe. Selbst hier dürfen wir nicht frei atmen, darf ich mein Bedürfnis nach frischer Luft nicht befriedigen, mitten im Atlantik.

„Bom día“ begrüßt uns der Rezeptionist in unserem Hotel. Er gibt uns die Zimmerschlüssel und fordert uns höflich aber bestimmt auf, dass wir beide das Zimmer nicht verlassen dürfen, bis das Ergebnis von Jochens Test vorliegt. Wir schauen uns beide an und bekommen direkt Luftnot. Was passiert, wenn der Test positiv ist? Der Mann am Flughafen sagte Jochen noch, dass er dann abgeholt und für zwei Wochen in ein Quarantänehotel gebracht werden würde. Das ist unser kompletter Urlaub! Und was wäre dann mit mir? Müsste ich dann auch dorthin? Oder würde ich ihm dann jeden Tag von der Straße aus zum Fenster hochwinken, um dann alleine zum Strand zu gehen? Ich bin so sauer, weil ich mir wünschte, er hätte einfach diesen doofen unnötigen Test zu Hause gemacht. Danke Jochen! Ganz, ganz toll!

Noch acht Stunden bis zum Testergebnis. Wir beschließen kurzerhand uns aus dem Hotel zu schleichen, sobald es dunkel ist. Wir sind uns einig, dass wir diesen vielleicht letzten gemeinsamen Abend in Freiheit nicht hungrig auf dem blöden Zimmer verbringen werden. Vorbei an der Rezeption, gehen wir ganz langsam durch den Hauptausgang hinaus. Sobald wir aus der Sichtweite der Rezeption sind, rennen wir los und steigen in das erste Taxi, das uns hinunter zur Altstadt nach Funchal fährt.

Noch sechs Stunden bis zum Testergebnis. Wir gehen in ein Restaurant an einem großen Platz in der Nähe des zentralen Busbahnhofs gelegen und bestellen allerlei Vorspeisen, den typischen Vino verde und natürlich Bolo de Caco (Knoblauchbrot). Wenn sie uns holen, dann wenigstens stinkend. Gegenüber von uns hält auf einmal ein Polizeiauto. Zwei Polizisten in Uniform steigen aus und laufen zielstrebig auf uns zu. Das kann doch nicht sein! Sind wir jetzt etwa aufgeflogen? Werden jetzt sogar Gäste überwacht? Da wir schon etwas angetrunken sind, schauen wir uns an und fangen aus tiefstem Herzen an zu lachen, als wir bemerken, dass sie an unserem Tisch vorbei in eine Seitenstraße abbiegen. Oh Mann, das ist alles so surreal!

Noch 4 Stunden bis zum Testergebnis. Es ist jetzt schon fast Mitternacht und wir beschließen zu Fuß zurück zum Hotel zu laufen. Es ist eine schöne Sommernacht. In den Straßen von Funchal weht ein kühler Wind, und ich muss mir meine Weste überziehen. Die salzige Meeresluft atme ich tief durch die Nase ein und fülle damit meine vereinsamten Lungenbläschen. Sie haben schon so lange nicht mehr richtig tief durchatmen dürfen. Ich genieße jeden Atemzug.

Noch 2 Stunden. An der Hauptstraße angekommen, hält direkt neben uns ein Minibus. Wie in einem Science-Fiction-Streifen, steigen sechs Menschen aus, die in weiße Schutzanzüge eingepackt sind. Unter dem Deckmantel der Hygiene und des Seuchenschutzes werden sie in ein Hotel geleitet. „Das muss das Quarantänehotel sein“, höre ich mich selbst sagen und greife entsetzt nach Jochens Hand. Wieder blicke ich in angsterfüllte, verunsicherte und misstrauische Augen. Ihr Schicksal ist besiegelt. Wie Schafe werden sie zur Schlachtbank geführt. Ich möchte ihnen zurufen „rennt weg! Das können sie nicht mit euch machen!“ Doch es bleibt mir wie ein Kloß im Hals stecken. Den Rest des Weges verbringen wir schweigend.

Noch eine Stunde. Im Hotel angekommen, schleichen wir auf unser Zimmer. Gott sei Dank schläft der Nachtportier, und unser Ausbruch bleibt unbemerkt. Fix und fertig von all den Ereignissen lege ich mich ins Bett. Ich halte Jochens Hand und falle in einen tiefen Schlaf, wie ein Stein auf dem tiefen Meeresgrund, irgendwo vor der Küste Madeiras. Kurz darauf weckt er mich vorsichtig. Ich halte immer noch seine Hand und weiß im ersten Moment nicht, wo ich bin. Ich höre ihn nur sagen: „Er ist negativ“. Dann wird mir die Tragweite der Aussage bewusst, und der Stein in meinem Herzen fällt zurück in den Atlantik. Wir halten uns ganz fest und ich fange an zu weinen. Es ist 02:30 Uhr.

Diesen Artikel teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Telegram

schwarz auf weiß unterstützen

Freiwilliges Zeitungs-Abo oder Einzelspende an:

IBAN: DE83 1005 0000 0191 2112 65
(BIC: BELADEBE)

Kontoinhaber: Flugwerk UG (haftungsbeschränkt)

oder hier PayPal –

Ein Abo ist freiwillig. Alle Inhalte sind ohne Bezahlung verfügbar.

ODER
alles von Paul Brandenburg

Spenden an Paul Brandenburg persönlich werden für alle seine Projekte verwendet: