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Die Welt wurde klein
Kurzgeschichten-Reihe: Corona-Schicksale

Die Welt wurde klein

Die Hände einer Seniorin.

Unter dem Titel „Corona-Schicksale“ hat pb: schwarz auf weiß eine Reihe der Krisen-Aufarbeitung in literarischer Form gestartet. Jeden Sonntag erscheint ein fiktionaler Text, der menschliche Abgründe, politische Willkür und furchtbares Leid der Maßnahmenzeit thematisiert. Die Leser können sich an diesem Projekt beteiligen und eigene literarische Texte einreichen (redaktion@pbschwarzaufweiss.de). Wenn diese inhaltlich und formal passen, wird sie die Redaktion zeitnah veröffentlichen. Heute wird die Reihe mit einer Kurzgeschichte von Helmut Rössel fortgesetzt. Sie erinnert daran, dass während der Zeit der Corona-Maßnahmen gerade ältere Menschen an Einsamkeit litten.

Paulas Welt war klein geworden. Das wurde ihr im September 2019 zu ihrem 90. Geburtstag erschreckend klar. Denn zu ihrer Jubiläumsfeier kamen nur noch knapp 30 Gäste, vor zehn Jahren waren es noch über 50 gewesen. Doch Paula nahm es mit Fassung: Das war nun einmal das Schicksal des Alters, immerhin blieben ihr noch wenigstens diese 30 Gäste.

Nun lag dieses Jubiläum über ein halbes Jahr zurück. Doch plötzlich gab es eine Riesenaufregung um dieses seltsame neue Virus aus China. Zunächst waren alle davon ausgegangen, dass dies wirklich auf Asien begrenzt bleiben würde. Außerdem brauchte man sich ja bloß die Hände zu waschen, und alles wäre in Ordnung. Das war für Paula kein Problem, schließlich war sie von klein auf an penible Reinlichkeit gewohnt.

Schwerer wog da die Veränderung ihrer Routinen. Beispielsweise wurden die Seniorentreffen auf einmal abgesagt. Bislang hatte sie sich trotz ihrer mürben Knochen zu zweien dieser Treffen in der Woche geschleppt, dabei auch noch einige kleine Besorgungen in ihrem Viertel gemacht. Eine der etwas jüngeren Teilnehmerinnen des Seniorentreffens trug ihr noch die Beutel. Im Anschluss saßen die beiden bei Paula in deren Wohnung noch etwas beisammen und klönten weiter.

Nun war das alles auf einem Schlag vorbei, da auch ihre Freundin aus Sorge um ihre Gesundheit nicht mehr kam. Mit Mühe fand Paula eine Einkaufshilfe gegen Bezahlung. Die war auch dringend nötig, denn durch die fehlende Bewegung wurde sie immer steifer und immobiler. Oft hatte sie sich zu den Seniorentreffen regelrecht schleppen müssen, wobei ihr ihre unglaubliche Disziplin half.

Paulas Generation war an Disziplin gewöhnt. Sie erinnerte sich an die harten Kriegsjahre, die noch härteren Nachkriegsjahre, den extrem kräftezehrenden Wiederaufbau. Ohne die von Kindheit an anerzogene Disziplin hätte sie diese ganzen Strapazen nicht gemeistert. Und gemeistert hatte sie die letztendlich gemeinsam mit ihrem Mann, der nun schon seit vielen Jahren verstorben war. Sie würde also auch diese Krise mit gewohnter Disziplin meistern. Was war schon dabei? Immerhin brauchte man sich bloß die Hände zu waschen und einige Wochen auf die Seniorentreffen zu verzichten. Und die würden sicherlich schon bald wieder stattfinden.

Doch es gab eine Schwierigkeit, denn die Maskenpflicht war schon eine arge Last für Paula. Ihre Einkaufshilfe stöhnte schon darunter, dabei war die gerade erst in den 50ern, doch Paula bekam bei ihrem Gang zum Arzt kaum Luft. Da half auch ihre Disziplin nicht mehr. Denn zu der Maskenplage kam die geänderte Wartesituation in der Praxis ihres Hausarztes. Die Patienten durften nicht mehr ins Wartezimmer und mussten stattdessen in einer Schlange im Treppenhaus stehen. Der Fahrstuhl bis zur Praxis nutzte Paula rein gar nichts, denn man konnte vor lauter wartenden Patienten gar nicht aussteigen und musste sich somit durchs Treppenhaus bis in den vierten Stock mit langer Wartezeit durchkämpfen. Zwar hatte es schon Besteigungen des Mount Everest ohne Sauerstoffmaske gegeben, doch wenigstens hatten die Kraxler noch Sauerstoff.

Paula exerzierte das einmal durch, dann bat sie Dr. Junghans um Hausbesuche. Er hatte ein Herz und kam auch wirklich einmal pro Quartal bei ihr vorbei. Auch kannte sie eine der netten Arzthelferinnen, die Medikamente aus der Apotheke des Ärztehauses mitbrachte.

Diese Klippe war also vorerst umschifft, doch wurde Paula immer einsamer und durch den Bewegungsmangel auch steifer. Ihr fehlte einfach die Bewegung. Wo sollte sie auch hingehen! Die Seniorentreffen gab es nicht mehr. Außerdem riet das Fernsehen, dass man doch am besten im Haus bleiben sollte, um Leben zu retten.

Ihr Sohn meldete sich telefonisch jeden Tag bei ihr. Seine Anrufe waren mittlerweile jedoch eher lästig, denn er widersprach völlig dem vom Fernsehen vorgetragenen Lagebericht. Es gebe angeblich Menschen, die die Ernsthaftigkeit der Situation anzweifelten. Natürlich hatte sie schon von denen gehört. Das mussten diese sogenannten Reichsbürger sein, womöglich gar Nazis. Und von denen hatte sie nun wirklich die Nase voll, da die immerhin ihre Jugend gestohlen hatten, natürlich auch die ihres Mannes und ihrer sonstigen Bekannten und Verwandten ihrer Generation. Laut ihrem Sohn sollten sich unter diesen Menschen sogar Ärzte befinden. Was mussten das für versoffene und verantwortungslose Pfuscher sein! Wären es Mediziner von Rang, dann wären sie bestimmt im Fernsehen oder Radio zu Wort gekommen.

Dr. Junghans meinte ein halbes Jahr später, dass es nun Zeit für die Corona-Impfung sei, da Paula immerhin zur Hochrisikogruppe gehörte. Ihr Sohn hatte sie davor gewarnt und gemeint, dass gewissenlose Ärzte sich mit dieser Impfung eine goldene Nase verdienen würden, speziell bei Hausbesuchen. Paula brach daraufhin den Kontakt mit ihm zunächst ab, denn Dr. Junghans war ein so sympathischer und gebildeter junger Arzt – dem konnte man bedingungslos vertrauen. Ihr Sohn hatte wohl endgültig jede Bodenhaftung verloren. Wieso sollte das Fernsehen lügen? Warum sollte Dr. Junghans es nicht gut mit ihr meinen? Nur wegen der paar Kröten von der Krankenkasse, das konnte ja nun wirklich nicht so viel sein.

Dr. Junghans gab ihr wenige Wochen später auch die zweite Spritze und ein halbes Jahr später die dritte. Mittlerweile wurde im Fernsehen von vielen notwendigen Impfungen gesprochen, auch von einer Impfpflicht war die Rede. Da würde sich ihr Sohn schon noch umsehen.

Doch Dr. Junghans hatte auch eine schlechte Nachricht für Paula. Er riet ihr, dass sie aufgrund ihrer immer eingeschränkter werdenden Mobilität doch besser in ein Seniorenheim gehen sollte. Paula war das zunächst gar nicht recht. Immerhin würde sie Dr. Junghans dort als Hausarzt behalten können, also befolgte sie seinen Rat. Es wurde überraschenderweise schnell ein Platz frei, obwohl es vor Jahren noch lange Wartelisten gegeben hatte. Das musste wohl am Corona-Virus liegen. Da hatte das Fernsehen also doch richtig beraten.

Im Seniorenheim gab es jedoch eine Maskenpflicht. Zwar konnte Paula ohne Maske auf ihrem Zimmer sitzen, musste diese aber bei Besuchen der Heimmitarbeiter aufziehen. Hinzu kam, dass sie bei jeder Gelegenheit einen Corona-Test über sich ergehen lassen musste. Je nach Mitarbeiter war das extrem unangenehm bis sehr schmerzhaft – und sie war nun wirklich an Schmerzen gewöhnt. Sie hatte ihren Sohn doch noch von ihrer Unterbringung im Heim informiert und sprach auch wieder telefonisch mit ihm. Bei einem dieser Telefonate hatte er einen Satz gesagt, der sie doch grübeln ließ: „Du weißt doch, dass man dich und deine Generation vor und während des Krieges belogen hat. Unser Vater wies oft genug darauf hin.“ Das stimmte: Noch immer erinnerte sie sich an die Lüge vom bevorstehenden Endsieg, obwohl man mittlerweile auch ihr Elternhaus zerbombt hatte und sie bei fremden Menschen einquartiert waren.

Paula wurde immer schwächer, verlor auch zusehends ihren Lebensmut. Für was sollte sie noch leben, war doch das Leben eine einzige Qual geworden. Da gab es keinen Hoffnungsschimmer. Anfangs hatte sie geglaubt, dass die Sache innerhalb weniger Wochen überwunden sein würde. Doch nun waren es schon über zwei Jahre. Sie hatte keinerlei Kontakte mehr, auch Telefonate blieben weitestgehend aus. Gern hätte sie sich mit ihrem Sohn persönlich versöhnt, doch der durfte das Seniorenheim nicht ungeimpft betreten. Seine Maskenbefreiung würde man erst gar nicht akzeptieren.

Früher war Paula gern unter Menschen gewesen, hatte rauschende Feste gefeiert und im Mittelpunkt gestanden. Nun lebte sie völlig verlassen in diesem Vorzimmer zur Gruft. Hinzu kam, dass die völlig überlasteten Pflegekräfte auch nicht immer nett zu ihr waren und auch gar keine Zeit für sie hatten.

Dann rutschte sie morgens beim Gang zur Toilette aus und stürzte. Sie drückte die Glocke an ihrem Hals. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen die Pflegekräfte. Zunächst stülpten diese ihr die Maske über, obwohl sie vor Schmerzen laut stöhnte. Paula wurde auf der Fahrt zum Krankenhaus schwarz vor Augen. Sie bemerkte noch, wie man sie in den Operationssaal schob, hörte auch etwas von einer Notoperation, doch zu sehr belastete sie der Sauerstoffmangel. Dann wurde es endgültig schwarz um sie herum.

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