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Ein Volk, eine Bahn, 49 Euro
Lew Schütz

Ein Volk, eine Bahn, 49 Euro

Foto: ÖBB, Harald Eisenberger

Die Wiedergeburt der Volksgemeinschaft aus dem Geiste des Neuneurotickets. Zweiter Teil.

Die Autobahn und der Volkswagen sind das zweit- und drittschlimmste Verbrechen des Nationalsozialismus. Weltweite Verkehrstote seither sind mindestens zu einem Drittel der Opferbilanz deutscher Verbrechen zu summieren. Denn die durch den Reichsnaturschutzwart Alwin Seifert angestrebte Schönheit war auf die Länge bei den Autobahnen nicht durchzusetzen. Da verdrehten die Leute die Köpfe und rumms kam es zu fetten Auffahrunfällen, dort wo die Landschaft am schönsten wirkt. Immerhin: Lieber bei Garching zerfetzt, als im Hamburger Elbtunnel verglüht.

Frage jeden in der Familie, wer alles in vermeintlich tiefen Friedenszeiten Verletzungen und Tod erlitten hat oder diesen nur knapp entronnen ist. Zuweilen rennt der Fußgänger wie ein Infanterist unter Beschuss im Zickzack von Bürgersteig zu Bürgersteig, wie von einem Unterstand zum nächsten. Die uneingestandene Schattenseite der freien Fahrt für freie Bürger ist die komplette Verlegung der Wege. Seit Einführung der Verkehrsrichtung ist die Freiheitsberaubung amtlich geworden. Das Jahr 1938 brachte schlimme Gesetze für Deutschland und die Welt.

Fortkommen in geschwungenen Bögen

Aber die Eisenbahntrassen des Altreiches künden reine Poesie. West und östliches Gelände ruht im Frieden ihrer Hände. Die Habsburger servieren das Fortkommen in weitgeschwungenen Bögen. Ihre Trassierung schmiegt sich im Ornament den Hügeln und Flüssen an. Wer je in einer Sommernacht mit der Bahn von Split durch die Berge nach Agram fuhr oder über den Brenner nach Süden, der braucht kein Buch von Doderer mehr zu lesen um Kakanien vom Grund aus nachzufühlen zu können. In Venetien, Wolhynien, dem Prager Becken und der Lombardei hält der Mangel an Landschaft die Kurven etwas flacher. Was bleibt ist der respektvolle Abstand der Stationen zu den Städten. Aber die Droschkenkutscher warteten auf den Bahnhofsvorplätzen geduldig. Heute stehen dort Kraftomnibusse in ausreichender Taktung. Jedem Zug, auch durchfahrenden Gütertransporten, wird an den Stationen salutiert.

Apropos Prag: Abgesehen davon, dass während des tschechoslowakischen Intermezzos der elegante Hauptbahnhof (Ist von Josef Fantas Baukunst etwa das Adjektiv fantastisch abgeleitet?)  verstümmelt wurde, wäre ein Stuttgarter Aufstand in der goldenen Stadt nie nötig gewesen, da die Eisenbahn dort in der Stadt gegenwärtig ist und gleichzeitig draußen bleibt. Wer von Dresden kommend mit der Station Holleschowitz bereits in Prag angekommen ist, fährt bis zum Hauptbahnhof noch einen weiten Bogen, der als ein dynamisches Bellevue und ein Werbetanz des Ankommenden um die Stadt empfunden werden kann. Und die Unbefangenheit, mit der vom Veitsberg kommende Fußgänger beliebig über die Fernbahngleise schlendern, wäre in Restpreußen-Deutschland-BRD unvorstellbar. Selbst in großen Bahnhöfen wie Turnau und Split gibt es keine Unterführungen zwischen den Bahnsteigen.

Denkmal einer funktionalen Moderne

Die preußischen Planer dagegen schnitten die Bahn von Stadt zu Stadt wie mit einem heißen Messer durch die Butter: Tunnel folgt auf Brücke und Brücke auf Tunnel. Gewaltsamkeit und Willensstrenge kennzeichnen diesen Stil. Die Landschaft wird im Wortsinne durchdrungen. Höhenunterschiede werden stracks angegangen, vormals unter temporärer Ergänzung der Zugmaschinen. Auch das entbehrt nicht der Eleganz. Man fahre durchs Saaletal von Weißenfels nach Großheringen, durchs Höllental über die Ravennaschlucht oder einfach mit der Berliner Stadtbahn, versuche sich die von Morgensonne durchflutete Halle des Leipziger Doppelbahnhofs in ihrer früheren Pracht vorzustellen, vor ihrer Verstümmelung zum Kramladen.

Einem jüdischen Waisenkind, Baruch Hirsch Strausberg aus Neidenburg, in den südlichen Masuren, danken wir die englische Spurweite, die uns die langen Umsetzpausen an der Grenze zum russischen Europa bescherte. Der Emporkömmling wurde zielstrebig zum Eisenbahnkönig Europas. Er heiratete in London in die albinionische Gójim-Plutokratie ein, verlor später wieder alles, um in Berlin nahezu so einsam und arm zu sterben, wie er auf die Welt gekommen war. Was die Industriekapitäne Bethel Henry Strousberg, Albert Ballin und Walter Rathenau von den Musk, Zuckerberg und Bezos unterscheidet, ist, dass sie ein Schicksal gehabt haben und nicht nur anderen eines verhängen. Aber das ist ein anderes Thema. Die Eisenbahn ist auch dafür das Leitfossil, als einziges noch betriebenes Denkmal einer funktionalen Moderne nach der Einstellung der Telegrammpost und der Kannibalisierung des Fernsprechnetzes zum dubiosen Internet. Das Internet und das Bierglas werden sich nie durchsetzen. Darin kann man Sven und Gilbert nur zustimmen. Wer die beiden Philosophen aus dem lutherischen Mansfelder Land, die einzigen deutschen Filmhumoristen, die nicht der US-amerikanischen Television nachgebildet sind, noch nicht kennt, der fahre (Regional-)Bahn. Denn, mit Goethe gesagt: Wer Eisenbahn fährt und läuft der hat Religion, wer nicht Bahn sondern Auto fährt, der habe Religion!

Lew Schütz ist studierter Kunstwissenschaftler und Kultursoziologe, der drei Jahrzehnte im Kulturamt einer großen Kreisstadt in Deutschland gearbeitet hat.

Erster Teil: Das Volk fährt Bahn, der Sturm bricht los

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