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Der 1. Mai – Vom Kampf zum Feiern und wieder zurück?
Tilo Gräser

Der 1. Mai – Vom Kampf zum Feiern und wieder zurück?

Foto: Hannes Henkelmann

Der 1. Mai ist heute für die einen ein freier Tag zum Feiern, für die anderen ein Tag zum Demonstrieren und für die nächsten immer wieder ein Tag für Katz-und-Maus-Spiele mit der Polizei. Wer weiß eigentlich noch, wie dieser Tag einst entstand?

In der DDR, in der ich aufwuchs, war der 1. Mai der „Kampf- und Feiertag der internationalen Arbeiterklasse“. Das erinnerte an den geschichtlichen Ursprung: Der erste Kongress der II. Internationale der Arbeiterbewegung hatte 1889 in Paris festgelegt, am 1. Mai 1890 in allen Ländern zu demonstrieren. Dabei ging es nicht zuerst um allgemeine Ziele wie etwa die proletarische Revolution. Ganz Konkretes wurde vor allem gefordert: der Achtstundenarbeitstag.

Der Termin kam zustande, um an die Ereignisse Jahre zuvor in den USA zu erinnern. Dort hatte am 1. Mai 1886 ein mehrtägiger landesweiter Streik für den Achtstundentag begonnen. Zwei Tage später kam es den Berichten nach in Chicago erstmals zu Gewalt der Polizei gegen die Arbeiter. Dabei wurden Streikposten getötet und bei einem bis heute nicht geklärten Bombenattentat auf dem Haymarket starben Menschen. In der Folge kam es zu einer Verhaftungswelle gegen Gewerkschaften und das nicht nur in den USA.

Noch immer gibt es Streiks, wie zuletzt den der Eisenbahner hierzulande. Sie zeigten, dass das alte Motto noch gilt: Aller Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will. Doch anders als in Frankreich, wo seit Wochen landes- und gesellschaftsweit gegen die Rentenpläne von Macron protestiert wird, gibt es in der Bundesrepublik keine politischen Streiks mehr. Sie gelten als „nicht rechtmäßig im Sinne des Arbeitsrechtes“. Das Bundesarbeitsgericht entschied 1952: „Rechtswidrig ist ein Arbeitskampf, der zur Durchsetzung eines tariflich nicht regelbaren Zieles geführt wird.“

Das heißt: Für mehr Lohn darf gestreikt werden, aber nicht für andere Ziele wie Rente, Arbeitszeit und ähnliches. Aber Streiks zum Beispiel von Studenten für politische Ziele, etwa gegen Studiengebühren, gelten nicht als rechtswidrig. Das gilt ebenso für Streiks, die etwas verweigern, so beim „Frauenstreik“, beim Hungerstreik oder beim „Schulstreik“. Dazu könnte eigentlich auch der Streik von Arbeiterinnen und Arbeitern zählen, die sich weigern, sich weiter ausbeuten zu lassen. Aber das soll nicht sein.

Und so fordern Gewerkschaften heutzutage hierzulande am 1. Mai höchstens mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. In verschiedenen Städten werden wieder verschiedene Gruppen gar zur Revolution aufrufen – die auch in diesem Jahr nicht kommen wird. Dabei gibt es 2023 etwas, wofür beginnend mit dem 1. Mai gestreikt werden könnte, ähnlich wie vor mehr als 130 Jahren für den Achtstundenarbeitstag: die Viertagearbeitswoche. Die Debatte darum kam kürzlich auf. Darüber wird hin und her diskutiert.

Manchmal wird dabei auch an Karl Marx erinnert, den Vordenker der Arbeiterbewegung. Der hatte vor mehr als 170 Jahren schon vorgerechnet: Bei steigender Arbeitsproduktivität in Folge der technologischen Entwicklung müssen die abhängig Beschäftigten immer weniger arbeiten, um ihre Existenz zu sichern. Wenn sie aber weiter die volle Arbeitszeit arbeiten, dann für den steigenden Mehrwert, den Profit der Unternehmer und Besitzenden.

Wer Genaueres wissen will, kann unter anderem bei Marx nachlesen. Technologisch ist es längst möglich, weniger zu arbeiten – bei vollem Lohn. Das würde auch mehr Menschen in Arbeit bringen, vor allem in Bereichen, wo es notwendig ist, mehr als vier Tage zu arbeiten, so im sozialen und öffentlichen Bereich. Also, warum nicht dafür am 1. Mai streiken, statt eine realitätsferne Revolution auszurufen, sich mit der Polizei zu prügeln oder einfach nur einen freien Tag zu genießen? Vor allem Letzteres ist geblieben, seit der 1. Mai als „Tag der Arbeit“ auch in der kapitalistischen Bundesrepublik ein Feiertag wurde. Damit soll nichts gegen das Feiern gesagt werden. Aber am 1. Mai muss auch mal an seinen Ursprung als Kampftag für konkrete Interessen erinnert werden.

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