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Das Volk fährt Bahn, der Sturm bricht los
Lew Schütz

Das Volk fährt Bahn, der Sturm bricht los

Foto: Pexels, Albin Berlin

Die Wiedergeburt der Volksgemeinschaft aus dem Geiste des Neuneurotickets, erster Teil.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass Ereignisse, oft nicht durch jene bewirtschaftet werden, die sie bewirkt haben. Häufig übernehmen die Antipoden die Ausgestaltung der Folgen, was gelegentlich zu der Vermutung verleitet, diese wären sogar deren klandestinen Urheber. Erinnert sei hinsichtlich dessen an den Reichstagsbrand, den Rückbau der Türme am Hudson oder die Leitungssprengung im Belt. Gegenwärtig können wir dieses Wirkungsgesetz bei der Entflechtung des Tarifwirrwarrs der Eisenbahnen, Kraftomnibusse und der Elektrischen erleben. Was die Grünen durchgesetzt haben, hätte sich die Sozialistische Reichspartei nicht besser ausdenken können: Die Wiedergeburt der Volksgemeinschaft aus dem Geist des Neuneurotickets.

Der Reichsnaturschutzwart Alwin Seifert versuchte seinerzeit aus den Autobahnen etwas zu entwickeln, was dem Gedanken der totalen Transportation eigentlich entgegensteht: Ein Ortserlebnis und einen Erfahrungsraum. Die Eisenbahnen waren das seit je. Denn in ihnen wird das passive Behagen des Beförderten von der Mühwaltung des Transportierenden abgesondert. Mit welcher Lust erregen sich, zumal davon gar nicht Betroffene, über Verspätungen und Zugausfälle. Und wie vergleichsweise duldsam werden Verkehrsstauungen und Vollsperrungen von den Kraftfahrzeugführern hingenommen. Denn diese halten sich für die leichte Kavallerie der Freiheit, Easy Rider auf dem unermesslichen Highway. Doch an Bug und Heck ist ihnen eine Kennnummer eingeprägt, mit der jede Autobahnbrücke zur Rampe potentieller Selektionen wird. Befristete Passierscheine in Siegelform an der Scheibe kommen dazu. Unterm Strich bezahlen sie ein Ticket dafür, dass sie nicht gefahren werden, anstatt dafür, es zu werden. Als würden wir im Restaurant extra dafür bezahlen, damit wir nach dem Essen auch noch unser Geschirr spülen können.

Wer sein Eisenbahnbillett mit Bargeld bezahlt, ist zur unsichtbaren Ortsveränderung befähigt. Nebenbei: Niemand muss das 49-Euro-Ticket per Applikation auf dem Fernrufgerät vorweisen. Es ist ebenso in Papierform erhältlich, wozu hier ausdrücklich geraten sei. Auch das Corona-Regime hat die Mythe von der Freiheit der Selbstkraftfahrer weiter entzaubert. Im Istanbuler Straßenverkehr des Sommers 2020 waren die Chauffeure ihrer selbst alle mit atemberaubender Larve zu erblicken, während viele Fußgänger den Rotzlappen an der Armbeuge baumeln hatten und sich bei Nachfrage auf gutwilliges Versäumnis herausreden konnten. Der schnelle Selbstfahrer war auch umso schneller im Fangnetz der Corona-Sbirren. Für den Individualautomobilisten war jede Straßenecke, jeder Abzweig eine potentielle Kontrollfalle. Der Preis für vermeintliche Bequemlichkeit ist immer die Domestikation. Ernst Jünger hat darauf hingewiesen, dass jede Leitung, die ein Haus scheinbar versorgt, zugleich eine Pumpe ist, die Abzapfungen ermöglicht. Im Kapitalismus ist Frieden nur als Promo zu haben. Der Saldo richtet hin. Alle Massaker seit 1789 haben nur damit zu tun und kaum mit Weltanschauung: Effizienz, Rendite, Ökonomie.

Zurück zur Liebe in Zeiten der Corona. Im Zug dagegen wurde ausgiebig geknuspert und gesüffelt oder sich zum halb vorgetäuschten Schlummer hinterm herabhängenden Mantel versteckt. Die Bevorzugung des gemeinschaftlichen Reisens bedeutet nichts anderes als das Ende der Subventionierung des knallenden, prallenden, schillernden und stinkenden Individualismus, für den die Automobilität exemplarisch steht. Und jede Fahrtroute muss gebahnt werden. Ohne egale Beton- oder Asphaltpiste ist der flotteste Wagen ein taumelndes Ungetüm. Feldweg und Kopfsteinpflaster lassen den Lamborghini alt aussehen und sei er noch so fabrikneu.

Lew Schütz ist studierter Kunstwissenschaftler und Kultursoziologe, der drei Jahrzehnte im Kulturamt einer großen Kreisstadt in Deutschland gearbeitet hat.

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