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Was ist die Sprengung einer Staumauer gegen den Bau einer Staumauer?
Umgekehrte Verhältnisse

Was ist die Sprengung einer Staumauer gegen den Bau einer Staumauer?

Wasserfall

Zerstörung von Fließgewässern durch Sperrbauten wirkt teuflischer als Kernenergie. Eine Staumauer ist eine Umweltkatastrophe und kein Beitrag zu deren Abwendung. Eine Kolumne von Lew Schütz

Der Kachowkaer-Stausee ist der mündungsnächste in einer Kette von sechs aneinandergereihten Umweltkatastrophen, die den Dnjepr als Fluss vernichtet haben. Dieses Verbrechen an der heimatlichen Erde durch Verstopfung ihrer heiligen Lebensadern wurde von 1950 bis 1955 vorbereitet und vollzog sich bis 1958. Das Gebiet des Kamjansker Sitsch, eines der alten Kosakenrepubliken, wurde dabei zu großen Teilen überflutet. Der namengebende Steppenfluss Kamjanka, der mäandrisch dem Dnjepr zuströmte, wurde dadurch sechzig Jahre lang zu einer stehenden Bucht degeneriert.

Das “Pantha rei” des Heraklit wurde außer Kraft gesetzt, und seither konnte man getrost mehrmals in denselben Fluss steigen. Es setzte die Zersiedlung des Steppenlandes ein. Immer wieder kam es zu Hang-Abrutschungen, die zu weiteren Verlusten des inzwischen musealisierten alten Kulturraums führten. Nun wurden die Flüsse wieder befreit. Natürlich taumeln sie zunächst wie Riesen, die lange zusammengekauert in einer Kammer gesessen haben, ins Freie. Es wird eine oder zwei Menschengenerationen dauern, bis sie wieder zu ihrer Würde und Statur zurückgefunden haben. Wir erleben gerade die Renaturierung des Dnjepr, zumindest an seinem Unterlauf. Dabei tauchten auch die sterblichen Überreste einiger Schulkameraden unserer Großeltern aus dem Schlamm wieder auf. Ein Filmschnipsel zeigte aus dem gelben Schlamm zutage tretende Schädel, die noch in den Wehrmachtsstahlhelmen M35 stecken.

Während der Schlacht am Dnepr von August bis Dezember 1943 hatte die Heeresgruppe Süd unter General von Manstein 20.000 Gefallene zu beklagen. Der Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge will den Hinweisen nachgehen. Erst 2017 wurden durch den Umbettungsdienst Überreste von 150 gefallenen deutschen Soldaten geborgen. In seinem Buch „Rettet unsere Flüsse“ hat Bernd Uhrmacher 1999 darauf hingewiesen, wie raffiniert die industriellen Zerstörer der Flüsse ihre Profitgier als Beitrag zur Bewahrung der Schöpfung umzudeuten wissen. „Staudämme können brechen, wie alles Menschenwerk, sei es wegen konstruktiver Mängel oder durch Kriegsereignisse. Da rast eine gewaltige, alles vernichtende Flutwelle durchs Tal, die Menschen und Tiere verschlingt und Häuser hinwegfegt. Beispiele für solche apokalyptische Ereignisse gibt es viele.“

Der Autor verweist auf das Wiener Institut „Data Station for Dam Failures“, dass mit der Auswertung und Erfassung befasst ist. Dort wurde registriert, dass von den 25.000 Talsperren beachtlicher Größe im jährlichen Durchschnitt fünf brechen. Ein Versicherungsschutz ist ausgeschlossen für diesen Fall. Ein zeitgleich mit dem Kachowkaer Stauwerk von den Franzosen zusammengestümpertes Wasserreservoir wurde zunächst für die „dünnste Bogenmauer der Welt“ gefeiert. Diese war im Fundament nur sieben Meter dick, stieg aber 66,5 Meter in die Höhe. Fraglos eine Meisterleistung der Ingenieurskunst. Doch der Fels, an dem die Mauer sich abstützte, barst. Das Städtchen Fréjus wurde verheert und über 400 Menschen verloren in den Wassermassen ihr Leben.

Weitere Flutkatastrophen mit tausenden Toten nur durch Überspülungen ganz ohne Dammbrüche ereigneten sich 1963 in den Dolomiten und 1979 in Indien. Auch wenn keine Toten zu beklagen sind, so sind die Verluste und Zerstörungen in Folge der Kraftwerksbauten gewaltig: „Nach der Fertigstellung der Wasserkraftwerke am Oberrhein in den siebziger Jahren häuften und verschärften sich die Hochwasser am Rhein zwischen Mainz und Düsseldorf und richteten dort Schäden in Milliardenhöhe an.“ Die Kommentatoren in den deutschen Medien ergingen sich in Vorwürfen über eine Umweltkatastrophe, die sich nun mit der Entfesselung des unteren Dnjepr vollzieht. Jedoch ist es nicht ein größeres Verbrechen Menschen wie Fruchtfliegen zu züchten, deren Leben am seidenen Faden hemmungsloser Naturausbeutung durch Wasserumleitungen und Stromerzeugung aufgehängt wird.

Sei es, wie es sei. Die Regel 54 des internationalen Kriegsrechts besagt: Es ist verboten, Gegenstände anzugreifen, zu zerstören, zu entfernen oder unbrauchbar zu machen, die für das Überleben der Zivilbevölkerung unentbehrlich sind. Die Nato bombardierte am 22. Juli 2011 unter fadenscheinigen militärischen Vorwänden eine lybische Rohrfabrik die unentbehrlich war für die Instandsetzung des Great Man Made River, der wichtigsten zivilen Infrastruktur, die 70 Prozent aller Lybier mit Trinkwasser versorgt. Talsperren werden zum Ziel im Kriegsfall. Die Schweizer planen in einer militärischen Gefährdungssituation ein Absenken des Wasserspiegels der Stauseen.

Die Russen verfuhren mit dem Kachowkaer Stausee zu Jahresbeginn ähnlich. Während des Golfkriegs von 1991 nahm Israel als Vergeltung für mögliche Giftgasangriffe des Iraks, den Saddam-Staudamm nördlich von Mossul ins Visier. Eine anfänglich 47 Meter hohe Flutwelle hätte nach diesen Plänen, neben Mossul und Tikrit auch noch Damarra und Bagdad betroffen. Bemerkenswert ist auch, dass in den Berichten und Kommentaren zur Sprengung der Staumauer kein einziges Mal die „Operation Chastise“ Erwähnung fand. Etwas mehr als 80 Jahre vor der Sprengung des Kachowker Staudamms, in der Nacht vom 16. zum 17. Mai 1943 versuchten 19 umgebaute Lancasterbomber spezielle Rollbomben unter Wasser vor den Staumauern von fünf deutschen Talsperren an Weser und Ruhr zur Detonation zu bringen. Die vier Tonnen schweren Bomben wurden mit einem Motor vor dem Abwurf aus nur acht Metern Höhe in Rotation versetzt, um wie „Butterstullen“ über die Wasserfläche zu springen. Dadurch war es möglich die Torpedo-Abwehrnetze zu überwinden. An der Staumauer sank die inzwischen verlangsamte Sprengladung und detonierte in zehn Metern Tiefe.

Diese Operation war fraglos ein Kriegsverbrechen und zugleich ein minutiös ausgetüfteltes Teufelsspiel zur Verwüstung des industriellen Ballungsgebietes an der Ruhr. In zeitlicher Abstimmung sollten sich die Flutwellen aus Sorpe- und Möhnetalsperre überlagern. Nur Letztere wurde plangemäß gesprengt. In den Flutwellen ertranken mindestens tausend Menschen, vermutlich weit mehr. Die meisten von ihnen waren kriegsgefangene Arbeiter. Dabei verlief sich die im schwach besiedelten Möhnetal ohne das dicht bevölkerte Ruhrgebiet zu erreichen. Der Morsecode zur Erfolgsmeldung für den Angriff auf die Möhnetalsperre lautete „Nigger“. Denn das war der Name des schwarzen Hundes vom Commander Gibson, der kurioserweise in jener Nacht des Angriffs daheim von einem Fahrzeug überfahren wurde.

Nebenbei: Ein Beitrag aus einer zu Beginn dieses Jahres erschienenen Ausgabe der Zeitschrift „Osteuropa“ wirft Russland vor, mit einer möglichen Sprengung, bei einem Rückzug das bewirken zu wollen, was die Ukraine nachweislich bereits getan hat: die Unterbrechung der Wasserversorgung. Eine der ersten Maßnahmen der russischen Militäroperation im in der Ukraine betraf die Wiederinbetriebnahme des in der ersten Hälfte der sechziger Jahre zur Wasserversorgung der Halbinsel errichteten Nord-Krim-Kanals, den die Ukraine 2014 abgeriegelt hatte und dann 2017 mit einem Dammbauwerk vor der Landenge von Perekop unterbrach. Der Kanal führt über 400 Kilometer das Wasser des Dnjepr vom Kachowka-Stauwerk heran.

Im Sommer 2020 hörte man die Nachtigall durch die hiesige Berichterstattung trapsen. Im Zusammenhang mit der Dürre auf der Krim, deren Wasserbedarf zuvor zu 85 Prozent aus dem nun von der Ukraine trockengelegten Kanal gedeckt wurde, wurde darüber sinniert, ob Russland dieses Problem jetzt militärisch lösen wird. Mit welcher Umtriebigkeit dieser Krieg vom Westen und der Nato seit Jahrzehnten herbeigewünscht und -geredet wurde, ist offensichtlich. Es gibt ein schönes kleines Beispiel für die gelungene teilweise Renaturalisierung eines Flusslaufes. Eine solche erfolgte im oberen Isartal bei Schäftlarn durch die „Initiative Mühltal“. Ende 1994 lief dort nach siebzig Jahren Betrieb die Konzession für ein Wasserkraftwerk aus. Unterhalb und parallel zum Kompromisslertum der großen Alibi-Naturschutzverbände gelang es dieser Bürgerinitiative, dass Isar-Amper-Werk auf die teilweise Erfüllung seines Vertrages zu verpflichten.

Die Kanalisierung des Flusses auf sieben Kilometern wurde zwischen 1999 und 2002 aufgelöst. Jahrelang sah es dann dort aus wie nach einer Naturkatastrophe. Inzwischen ist der Charakter der Weichholzaue wieder entstanden, und der geschiebereiche Bergfluss konnte immerhin wieder einige seiner Charaktereigenschaften mit bewachsenen Kiesbänken ausbilden. Nicht als gesunder Strom aber immerhin als ein genesender. In diesem Sinne freuen wir uns über die aktuelle gute Perspektive für die Wiederherstellung eigentümlicher Landschaftsmerkmale im südlichen Kleinrussland.

Lew Schütz ist studierter Kunstwissenschaftler und Kultursoziologe, der drei Jahrzehnte im Kulturamt einer großen Kreisstadt in Deutschland gearbeitet hat.

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