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Von der Stasi zur Menschenrechtsaktivistin
Wikipedia

Von der Stasi zur Menschenrechtsaktivistin

Wikipedia dient mittlerweile als Herrschaftsinstrument. Bestimmte Einträge kommen mit scheinbarer lexikalischer Neutralität daher, transportieren aber in Wirklichkeit übelste Propaganda im DDR-Stil – wie sich im Fall von Anetta Kahane veranschaulichen lässt. Eine Kolumne von Markus Fiedler

Wesentlich für eine Demokratiebildung ist die Möglichkeit für den heranzubildenden Demokraten, sich Informationen aus möglichst staatsfernen und ideologiefreien Medien beschaffen zu können. Das Bundesverfassungsgericht hat daher in mehreren Urteilen zur Ordnung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks (ORR) der Meinungsmacht das Prinzip der Vielfaltsicherung entgegengestellt. Eine Konzentration dieser Meinungsmacht auf eine kleine Gruppe wollte das Verfassungsgericht unter allen Umständen vermeiden. Die Wikipedia war zwischenzeitlich die weltweit fünfhäufigste aufgerufene Seite. In Deutschland liegt sie derzeit auf dem 12. Platz in der Aufrufstatistik.

Im Scheinlexikon ist die vom Verfassungsgericht bekämpfte Konzentration einer Meinungsmacht auf eine kleine Gruppe von nicht mehr als 200 Editoren zu beobachten, die Artikel nach ihrem Gusto umformen. Daher müsste diese Pseudoenzyklopädie nach den vom Verfassungsgericht aufgestellten Regeln eigentlich reguliert werden. Daran besteht aber kein politisches Interesse. Was wir im Ergebnis sehen, sind Einträge, die mit scheinbar lexikalischer Neutralität daherkommen, in Wirklichkeit aber übelste Propaganda im DDR-Postillen-Stil transportieren.

Und wieder Anetta Kahane

Kahane ist in der DDR geboren, Gründerin und Vorstandsvorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung. Diese Stiftung fällt regelmäßig durch höchst bedenkliche Aktivitäten im Rahmen ihres angeblichen Kampfes gegen rechte Gewalt und Hassrede auf. So gibt die Stiftung etwa Anleitung zur Denunziation von abweichenden Meinungen im Internet, die im demokratischen Diskurs vollkommen zulässig und weder Hassrede enthalten, noch radikal oder gar extremistisch sind. So zum Beispiel nachzulesen und zu überprüfen im Flyer “Hetze gegen Flüchtlinge in sozialen Medien” auf Seiten 5 und 6 (z.B. “Gegenüberstellung »Wir« und »Die«”, “Die da oben/die Lügenpresse – erzählen uns eh nicht die Wahrheit”). Inzwischen schreibt Kahane auch für die Bundeszentrale für politische Bildung, die Materialien für den Schulunterricht bereitstellt.

In der Welt war noch im Jahr 2007 über Kahane zu lesen: „Fast 800 Seiten umfasst die IM-Akte „Victoria“, von denen die Birthler-Behörde gut 400 Seiten freigegeben hat. Enthalten sind mehr als 70 Informationen, die ausweislich der Akte von der Stasi-Zuträgerin stammen. IM „Victoria“ berichtete ihrem Führungsoffizier über Bekannte, die sie im privaten Rahmen aushorchte – während einer Faschingsfeier, einer Hochzeit, eines Konzerts oder eines Stadtbummels.“

Und weiter: „Mit ihren Angaben belastete Kahane Dutzende Personen aus ihrem unmittelbaren Umfeld, darunter viele Künstler. Sie berichtete über einen ZDF-Reporter, mehrere Studenten von West-Berliner Universitäten und vor allem über in der DDR lebende Ausländer. Kahane führte Aufträge aus und erhielt von der Stasi kleinere Geschenke und Geld. In einem von IM „Victoria“ stammenden Bericht heißt es 1976 über einen Kreis von Schriftstellern und Schauspielern: ‚Zu den Feinden der DDR gehören in erster Linie Klaus Brasch und Thomas Brasch.‘“ Die Gebrüder Brasch sind Juden.

Das die Jüdin Kahane andere Juden schlechtredete und damit gegen eine elementare Moralvorschrift des jüdischen Glaubens eklatant verstieß, gibt der Sache einen sehr bitteren Beigeschmack. Vier Jahre nach diesem Bericht wurde der Schauspieler Klaus Brasch am 3. Februar 1980 in seiner Wohnung alkoholisiert und mit Tabletten betäubt tot aufgefunden. Hier ergibt sich zwar eine lose zeitliche Korrelation, ein Kausalzusammenhang zur Bespitzelung durch „IM Victoria“ ist jedoch nicht herstellbar. Dennoch muss die Frage erlaubt sein, in welcher Form Kahanes Spitzelbericht Auswirkungen auf das Leben und die Psyche von Klaus Brasch gehabt haben könnte, wenn er zuvor als „Feind der DDR“ betitelt wurde.

Dieser und nachfolgende Berichte über die Stasitätigkeit sind für Kahane und ihr Ansehen selbstverständlich schädlich. Der Zuschauer könnte sich fragen, ob diese Frau die richtige Besetzung für die Bekämpfung von Hassrede und Rechtsradikalen ist, wenn sie doch vorher ein totalitäres System tatkräftig durch Denunziation von Andersdenkenden unterstützt hat.

Die Wikipedia ist als „Visitenkarte“ für die öffentliche Wahrnehmung einer Person überaus wichtig. Lange Jahre war hier die Stasitätigkeit von Kahane gleich in der Einleitung ihres Eintrags erwähnt. Liest man jetzt über sie in der Wikipedia, soll Kahane stattdessen Menschenrechtsaktivistin sein.

Erstmals eingetragen wurde dieser Begriff vom Wikipedia-Pseudonym “Fiona B.” und das natürlich ebenfalls gleich in der Einleitung. In einer mehrteiligen Editieraktion, die am 22. Juli 2016 um 21:41 Uhr begann, ändert sie schrittweise die für Kahane sehr unschöne Einleitung ab und fügt die „Menschenrechtsaktivistin“ um 22 Uhr noch am selben Tag ein. Im Rumpfartikel wird ergänzt, dass beide Eltern von Kahane während des zweiten Weltkriegs in der Resistance gekämpft haben. Ehrenwert und rührend! Was das mit dem Sozialverhalten der Tochter zu tun haben soll, wird dem geneigten Leser allerdings nicht klar. Der schrittweisen Artikelbearbeitung fällt dann am 25. Juli 2016 um 19:44 Uhr die einleitende Erwähnung der Spitzeltätigkeit von Kahane zum Opfer. Diese ist bis heute aus der Einleitung verschwunden. So wird in der Wikipedia die Vita etwas aufgepeppt.

Die Editorin Fiona B. begann übrigens ihre Karriere in der Wikipedia im Jahr 2011 mit dem Schlechtschreiben der Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth. Von selbiger ist keine Kollaboration mit der Stasi bekannt. Heide Göttner-Abendroth ist aus der DDR in den Westen geflohen. Tja, so kann es gehen.

Interessant ist darüber hinaus, wie intensiv in der Wikipedia am Schönschreiben von Kahanes Vita gearbeitet wird. Jegliche Versuche, die Stasitätigkeit wieder in die Artikeleinleitung einzutragen, wurden vehement von einer kleinen Gruppe an Editoren unterbunden, die den Kahane-Artikel wie Schießhunde bewachen. So löschte der Autor „Kopilot“ mehrfach solche Einträge. Wichtig war ihm auch, dass Kahane „laut Akten keine finanziellen oder materiellen Vergünstigungen“ erhielt. Das widerspricht zwar eklatant dem Welt-Artikel, der von „Geschenken und Geld“ spricht. Aber Kopilot gehört zu den Wikipedianern, die die Wahrheit gepachtet haben. Und so kann man der Einleitung zu Kahanes Eintrag jetzt in etwa entnehmen, dass sie ein armes weißes Knuddelhäschen sei, dass keiner Fliege jemals etwas zuleide getan habe, sondern – ganz im Gegenteil – sich für Menschenrechte einsetze.

„Kopilot“ heißt im wahren Leben übrigens Gerhard Sattler. Dieser ist Klavierlehrer an der Uni Osnabrück und wohnt im Umfeld von Osnabrück und ist einer der Intensivtäter in der Wikipedia. Er hat beispielsweise in fünf Jahren rund 50.000 Einträge gemacht, davon die meisten im hier gezeigten Stil.

Weitere Informationen zur Veränderung des Artikels über Kahane gibt es in den ersten beiden Folgen von „Geschichten aus Wikihausen“.

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