ressorts.
Moderne ist Murks und Mord
Zeitgeist

Moderne ist Murks und Mord

Modernes Gebäude

Foto: Pixabay/PublicDomainPictures

Zeitgenossenschaft ist keine Genrebezeichnung. Modernität kein Qualitätssiegel. Im Gegenteil. Eine Kolumne von Lew Schütz

Leute, die Caesar nur aus französischen Bildgeschichten kennen, halten es für das größte Lob, welches einem Gedanken oder einem Werk zukommen kann, wenn er oder es als modern bezeichnet werden. Sie dürfen sich darauf verlassen, dass Ihnen Zustimmung entgegengebracht wird. Dabei ist das Moderne bestenfalls der letzte Murks. Im übelsten Fall bedeutet es: millionenfachen Tod und Vernichtung.

Wenden wir uns zuerst den geringeren Anlässen für die Modernebehauptung zu. Gegenstände, denen man bescheinigt, modern zu sein, zeichnen sich in der Regel durch einen minderen Gebrauchswert oder völlige Unbrauchbarkeit aus. Zudem sind sie hässlich und unzweckmäßig. Hässlich ist freilich auch der überladene Eklektizismus, weil er selbst nichts bedeutet und dabei auf alles Mögliche verweist. Aber das Moderne ist darin noch armseliger, weil es nur aussagt, modern zu sein und sonst nichts. Das Flachdach muss nicht auch noch vor Regen schützen, wenn es doch schon davor schützt, als altmodisch zu gelten.

Über die Modernität von hundert Jahre alten Stummfilmen wird gestaunt. Dabei ist ihre Bildsprache einfach nur lebendig geblieben, zumeist lebendiger als die mit ihr zeitgleich entstandene Bildende Kunst. Die Zeit konnte ihr nichts anhaben. Währenddessen neuere Filmemacher sich mit konventionellen Wendungen bescheiden, denen gegenüber das Original, auf welches sie bewusst oder unbewusst verweisen, tatsächlich gegenwärtiger wirkt als die uns zeitgenössische Hervorbringung. Zeitgenössische Kunst ist keine Genrebezeichnung. Der Begriff teilt uns nur mit, dass wir zusammen in einer Zeit leben.

Der erste Weltkrieg wird als die Jahrhundertkatastrophe bezeichnet. Dabei war er nur ein Blutgeysir, der aus der bereits über Jahrzehnte von der Moderne errichteten Katastrophenlandschaft hervorschoss. Wer an die Wiege dieses Monstrums treten möchte, dem sei eine Fahrt nach Lodsch empfohlen. Das war an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Siedlung mit knapp 200 Bewohnern und stand kurz vor der Aberkennung des Stadtrechts. Dann erlebte die Stadt einen gewaltigen Aufschwung, insbesondere durch die Textilindustrie und die damit verbundene Zuwanderung aus Sachsen, Böhmen und Schlesien. Wer von dort nicht nach Amerika ging, der ging nach Lodsch in Russisch-Polen.

Diese Entwicklungsphase ist der Stadt nahezu ungebrochen abzulesen. Sie erzählt uns sehr anschaulich von der Wertlosigkeit eines Menschenlebens in der modernen Gesellschaft. Und zwar schon lange vor der Etablierung des Ghettos von Litzmannstadt. Es zeigt uns die Obszönität beziehungslosen Reichtums. Lodsch ist sozusagen das Urbild industrieller Vernichtung von Menschenleben, die umfassender und brutaler ist als die antike Sklaverei.

Um die vorletzte Jahrhundertwende betrug der Anteil von Analphabetismus und Säuglingssterblichkeit unter den Arbeitssklaven der Unternehmer 80 Prozent. Die darauf einsetzende Philanthropie ist das andere Gesicht des Januskopfs der Bestialität der Moderne. Nicht nur die Revolution hat ihre Kinder verschlungen, sondern auch die Industrialisierung. Bevor die Industriemogule ihre Paläste unmittelbar neben den unverputzten Produktionshöllen errichten ließen, hat das Städtchen kaum herrschaftliche Architektur aufgewiesen. Es gab vor Ort keinen Anlass für einen Überbietungswettbewerb.

Das 1888 errichtete neogotische Mausoleum von Karl Scheibler auf dem evangelischen Friedhof von Lodsch übertrifft das 21 Meter hohe Grabmonument der Königin Victoria in Frogmore um 15 Meter. Izrael Poznański errichtete seinen Palast unmittelbar neben seinem Fabrikgelände. Dieser birgt heute das Museum der Stadt. Den Maßstab für das auch Lodscher Louvre genannte ungeheuer geschmacklose Gebäude wird sein Inhaber aus Aufenthalten in Monte Carlo und Paris bezogen haben.

So wie das vom Lorbeer umwundene große N in den von Kaiser Napoleon bewohnten Gemächern hat Poznański den großen Saal mit seinem Monogramm ausgestattet. Wenn unten die Straßenbahn vorbeirumpelt, klirren leise die Kristallgehänge an den Kandelabern. In der Abteilung über die Industriegeschichte der Stadt ist ein Foto zu sehen, auf dem die Belegschaft im grauen Fabrikhof hinter diesem Wolkenkuckucksheim angetreten ist. Die puppenhaften grauen Arbeitsautomaten erinnern an die Arbeitslager und Ghettos der darauffolgenden Jahrzehnte. Es ist eine finstere, degradierte Masse, der die Lebenskraft noch abgezapft wird, bevor sie im dunklen Schlund für immer und ungenannt verschwindet.

Die Lagerlandschaft der totalitären Regime hat ihr Urbild in der modernen Industriegesellschaft. Die Industrialisierung der Menschenvernichtung und -verschiebung, wie sie mit dem Weltkrieg offenbar wurde, hat sehr viel weniger mit Ideologie zu tun als mit den Produktionszwängen der Moderne. Diese waren das Initial. Die Ideologien wirken höchstens im Sinne einer Verstärkung daran mit. Wenn wir eine maßgebliche Ideologie ausmachen wollen, dann finden wir sie im 14. Jahrhundert, die das Schießpulver erfunden hat und die mechanische Uhr und die großen Kathedralen baute.

Damit fängt die Taktung an, die Effizienz und die Bewertung, die auf Entwertung und Vernichtung hinausgeht. Es passen noch mehr Arbeitssklaven in eine dunkle Kammer als Engel auf einer Nadelspitze Platz finden. Eine Sonderausstellung im genannten Museum, präsentierte das Schaffen eines polnischen Gestalters. Dieser wurde in jungen Jahren aus Wilna vertrieben und beheimatete sich in Lodsch. Zu sehen waren einige spröde Bilder im verlegenen Stil der sechziger und siebziger Jahre. Weit interessanter waren die Produkte.

Unter anderem entwickelte er die erste Segeljacht, deren Rumpf vollständig aus Kunststoff bestand. In der Ausstellung verteilt standen Repliken der von ihm entworfenen Stühle. Eine massive Kunststoffschale passte sich dem Gesäß an wie ein umgekehrter Helm. Unter dieser spreizten sich spitzzulaufende Beine. Nach einer Weile erhebe ich mich aus einem solchen Sessel, um meinen Rundgang fortzusetzen. Wie ich nun wieder eines der Gemälde betrachte, die nur gestaltet, aber nicht entstanden sind, vernehme ich ein grunzendes Geräusch von der Stelle, die ich eben verlassen habe.

Der moderne Sessel hatte mir also noch etwas mitzuteilen. Ich habe ihn dann noch einmal zur Sau gemacht. Mein Gewicht drückte die vier Beine auf dem glatten Palastboden unmerklich auseinander. Nach der Entlastung dauert es eine Weile, ehe sich das Gestell wieder entspannt. Dabei rutschen die Füße wenige Millimeter über den Boden und erzeugen jenes gleichsam gierig schmatzende Geräusch. Kein Zufall. Grunze, dass ich dich sehe. Heraklit meinte: Wenn alles Seiende zu Rauch würde, könnte die Nase es wohl unterscheiden.

Diesen Artikel teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Telegram

schwarz auf weiß unterstützen

Freiwilliges Zeitungs-Abo oder Einzelspende an:

IBAN: DE83 1005 0000 0191 2112 65
(BIC: BELADEBE)

Kontoinhaber: Flugwerk UG (haftungsbeschränkt)

oder hier PayPal –

Ein Abo ist freiwillig. Alle Inhalte sind ohne Bezahlung verfügbar.

ODER
alles von Paul Brandenburg

Spenden an Paul Brandenburg persönlich werden für alle seine Projekte verwendet: