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Glotzt nicht so demokratisch!
Grundordnung

Glotzt nicht so demokratisch!

Vor etwas über hundert Jahren bekam der Kraftmeier aus Augsburg für sein Stück „Trommeln in der Nacht“ den Kleistpreis verliehen. Im Zuschauerraum der Münchner Kammerspiele am 29. September 1922 wurde das Publikum durch Plakate ermahnt: „Glotzt nicht so romantisch!“

Der gebildete Kleinbürger hat eine Kulturpsychose. Er speist erst nach dem Kunstgenuss. Der aristokratische Opernbesucher beendete dagegen in aller Ruhe sein Gabelfrühstück, um rechtzeitig zum zweiten Aufzug mit den biegsamen Balletteusen in der Loge zu erscheinen und entscheiden zu können, welche der Gazellen sich nach der Vorstellung gegebenenfalls mit einer heißen Schokolade kirren ließe. Im Teatro San Bartolomeo in Neapel ließ man es sich auch im Angesicht von Scarlattis und Pergolesis Opern schmecken. Während des Wiener Kongresses sollen unentwegt Beethovens Sinfonien, und zwar immer gleich mehrere in einem Konzert, gespielt worden sein. Unterdessen konnten wichtige Dinge besprochen werden. Unbedingt waren diese Menschen kultivierter als jene in Ehrfurcht vor der heiligen Kunst erstarrten Banausen, auf die völlig zu Recht Brechts ätzender Humor zielte.

Was man sicher besitzt, damit muss man nicht hausieren gehen. Das Gerede über die demokratisch-freiheitliche Grundordnung ist ein Singen im Walde. Demokratie kann allenfalls Verfahrensordnung sein, wenn sie es denn wäre, aber kein Inhalt, kein Wert und keinesfalls der verehrte Gegenstand unseres Zusammenlebens. Ein eminent geistreicher wenn auch zuinnerst völlig ausgekohlter Autor des alternativen Spektrums bemerkte sinngemäß zum Unterschied zwischen Demokratie und Monarchie: Die letzte hätte es gegeben. Etwas moderater als Michael Klonovsky hat es Sokrates ausgedrückt: Die beste Monarchie wäre jene, die einer Demokratie am meisten ähnele und die beste Demokratie trüge Merkmale der Monarchie. Wenn es so etwas wie Fortschritt gegeben hat, auch dieser Begriff, der an sich relativ ist, wird sehr gern absolut gesetzt, dann gab es ihn in den kurzen Epochen des Absolutismus. Der absolute Herrscher ist kein Willkürherrscher. Er ist der Schirmherr seines Volkes vor der Willkür der Herren.

Index der unsäglichen Worte

Das Lebenswerk des israelische Historikers Jakob Talmon (1916 bis 1980) ist eine dreibändige „Geschichte der totalitären Demokratie“. Er sieht den Ursprung der von totalitären Heilserwartungen angetriebenen Schreckensherrschaften des zwanzigsten Jahrhunderts in der französischen Revolution von 1789. Die Diktaturen sind eben kein Bruch mit der Demokratie sondern gleichsam die Echse, die immer wieder aus dem demokratischen Ei schlüpft, wenn es nur lang genug unter der Sonne der Verantwortungs- und Beziehungslosigkeit brütet. Es täte Not das Wort Demokratie für einige Jahrzehnte auf einen Index der unsäglichen Worte zu setzen.

Die offenbare Perversion der Demokratie der letzten Jahre hat eine ganze Reihe von Volkshelden hervorgebracht, wie wir sie in der Geschichte in Figuren wie den Räuberhauptleuten Stülpner Karl, Schinderhannes, Karasek oder dem Michael Kohlhaas verkörpert kennen. Ich nehme nur zwei dieser zeitgenössischen Bürgerrechtler heraus. Lutz Bachmann wurde als unbeugsamer Anführer der Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung Europas in Dresden bekannt. Anselm Lenz, der zuvor schon mit dem „Haus Bartleby“ die Achilllesferse des globalen Kapitalismus getriggert hatte, erwies sich ab 2020 als umtriebigster und wendigster Partisane in der Abwehr der Zumutung des Corona-Pandämoniums. Das von ihm mitherausgegebene Zentralorgan „Demokratischer Widerstand“ trägt einen vergleichbar peinlichen Titel wie PEGIDA. Die Dresdner Pegida haben nämlich als eine Volksermächtigungsbewegung weit mehr mit den ägyptischen Muslimbrüdern oder der polnischen Solidarität gemeinsam, als mit Geert Wilders und Marine Le Pen. Doch ein Markenname, wenn er einmal groß geworden ist, muss beibehalten werden. Der Eintritt in die Geschichte gelingt nur einmal. Einen zweiten Wurf wird es nicht geben. Zu den rhetorischen Tiefpunkten der bewundernswert geschmeidig agierenden Schwurbler gehört die Demokratie-Rhetorik, einschließlich Faschismus-Vorwurf. Es sei eine selbstironische Souveränität mit den absurd selbstherrlichen Eigenbenennungen angeraten. Haben doch Lenz und seine besten Mitstreiter gegen den lammfrommen Demos im Auftrieb der staatlichen Hütehunde eine genuin aristokratische Haltung eingenommen.

Suscipiant montes pacem populo steht als Devise auf einer kursächsischen Talerklippe von 1679. Der Vers 3 des Psalms 72 lautet in Luthers Übersetzung: „Lass die Berge Frieden bringen für das Volk (und die Hügel Gerechtigkeit.)“ Darum glotzt nicht so demokratisch.

Kursächsische Talerklippe von 1679. Foto: Lew Schütz

Lew Schütz ist studierter Kunstwissenschaftler und Kultursoziologe, der drei Jahrzehnte im Kulturamt einer großen Kreisstadt in Deutschland gearbeitet hat.

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