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Die Aktualität von John Stuart Mills Schrift „Über die Freiheit“
Zum 150. Todesjahr

Die Aktualität von John Stuart Mills Schrift „Über die Freiheit“

John Stuart Mill und sein Essay "On Liberty"

Foto: Screenshot/Then & Now

Um die Meinungsfreiheit ist es schlecht bestellt. Da lohnt es sich wieder, die Lektüre John Stuart Mills aufzuschlagen. Was er schon 1859 formuliert hat, wirkt heute geradezu modern.

Vor knapp 150 Jahren starb der englische Philosoph John Stuart Mill, ein leidenschaftlicher Verfechter des Liberalismus, der ideengeschichtlich wesentlich dazu beigetragen hat, dass sämtliche Freiheitsrechte in die Verfassung eingingen. Bereits im 19. Jahrhundert setzte er sich für die Frauenemanzipation und das allgemeine Wahlrecht ein. Oberste Priorität hatte für ihn die Freiheit vom „Terror der Gesellschaft“. Die größte Gefahr sah Mill im Konformitätsdruck, in dem Zwang, sich so zu verhalten wie alle anderen, weshalb er philosophisch daran arbeitete, die Grenze zwischen staatlicher Verfügungsgewalt und persönlichen Freiheitsrechten zu bestimmen. Seine Überlegungen dazu formulierte er 1859 in dem Essay „Über die Freiheit“, der als Grundtext des politischen Liberalismus gilt. In Mills 150. Todesjahr wirkt der Text aktueller denn je. Er liest sich, als würde der englische Philosoph aus seinem Grab heraus den gegenwärtigen Umgang mit Andersdenkenden kommentieren – insbesondere in Deutschland.

Spätestens seit der Corona-Krise häuft sich der Trend, Menschen aus dem Debattenraum zu verbannen, deren Aussagen mit den offiziellen Narrativen nicht übereinstimmen. Sie werden diffamiert, als „Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet und sogar strafrechtlich verfolgt. Wolfgang Wodarg, Stefan Hockertz, Sucharit Bhakdi – die Liste könnte ins Unendliche weitergeführt werden. Diese hochkarätigen Mediziner und Wissenschaftler wurden während der Corona-Krise mundtot gemacht, nur weil sie zu anderen Schlüssen kamen als die Modellierer und Experten des politischen Establishments. Das „besondere Übel der Unterdrückung einer Meinungsäußerung liegt darin“, schreibt Mill in „Über die Freiheit“, „daß es am menschlichen Geschlecht als solchem Raub begeht, an der Nachwelt so gut wie an den Mitlebenden, an denjenigen, die von dieser Meinung nichts wissen wollen, noch mehr als an denen, die sie vertreten.“

Schaden durch Unterdrückung der Meinung

Wer andere Meinungen unterdrückt, tut der Wahrheit keinen Gefallen. Aber ist es nicht gerad sie, die für Fortschritt sorgt? Besteht darin nicht der Wesenskern einer liberalen Gesellschaft? Will sie sich nicht gerade über den Wettstreit der Meinungen und Ansichten weiterentwickeln? Dieses Prinzip des Pluralismus wird stets hochgehalten, in der Praxis aber zusehends vernachlässigt. Den dadurch entstehenden Schaden beschreibt Mill so: Wenn die unterdrückte Meinung richtig sei, „so beraubt man sie der Gelegenheit, Irrtum gegen Wahrheit auszutauschen“. Sei sie dagegen falsch, dann verlören die Zensoren und Cancler „eine fast ebenso große Wohltat: nämlich die deutlichere Wahrnehmung und den lebhafteren Eindruck des Richtigen, der durch den Widerstreit mit dem Irrtum entsteht“.

Wer solche Argumente heute hervorbringt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein Querkopf zu sein, der ein verzerrtes Bewusstsein hat. Schnell wird vehement darauf verwiesen, dass doch gerade im „besten Deutschland aller Zeiten“ absolute Meinungsfreiheit herrsche. Unterbunden würden lediglich Fake-News. Gemeint sind Äußerungen, die ans Eingemachte gehen und Dinge ansprechen, die in Leitmedienformaten wie Talkshows, Kommentaren oder Nachrichtensendungen keine Erwähnung finden. Was über diesen Rahmen hinausgeht, wird sofort als „Verschwörungstheorie“ gebrandmarkt. Dieses Phänomen hat Mill so auf den Punkt gebracht: „Sonderbar ist es, daß man wohl die Gültigkeit der Gründe für freie Diskussion zugesteht, sich aber dagegen wehrt, daß sie ‚auf die Spitze getrieben‘ werden. Dabei übersieht man, daß, wenn die Gründe für außergewöhnliche Fälle nicht zureichen, sie überhaupt nichts taugen.“

Wie ein Kommentar auf die „Letzte Generation“

Das politisch-mediale Establishment beansprucht heute die Deutungshoheit für sich. Was nicht in das eigene Narrativ passt, wird abgekanzelt. Sonderbar, so Mill weiter, „daß man sich einbildet, keine Unfehlbarkeit für sich zu beanspruchen, wenn man zwar anerkennt, daß freie Erörterung aller möglichen zweifelhaften Gegenstände wünschenswert sei, aber denkt, daß man die Prüfungen einiger besonderer Prinzipien oder Thesen verbieten sollte, weil sie so gewiß sind.“ An dieser Stelle von „Über die Freiheit“ wirkt der lange verstorbene Philosoph, als bezöge er sich direkt auf die „Letzte Generation“ und die sie hoffierenden Leitmedienjournalisten, die sich ganz sicher sind, dass die Welt bald untergehen wird. Wer das Gegenteil behauptet und den Klimawandel nicht als Apokalypse begreift, agiert für sie nicht im Einklang mit der Wissenschaft.

Das gleiche Argument brachte dieser Verbund von Meinungswächtern auch während der Corona-Krise hervor, um die eigene Unfehlbarkeit zu demonstrieren. Sie dient derzeit als Maßstab dafür, wer im Wissenschaftsbetrieb weiterforschen darf. „Rauswerfen – oder aushalten?“, schreibt der Spiegel. „Die Universitäten tun sich schwer mit Dozenten, die Verschwörungstheorien anhängen oder inhaltlich abdriften. Wie weit reicht die Freiheit von Lehre und Wissenschaft?“ Unter diesem Teaser prangen Bilder von Michael Mayen und Ulrike Guérot. Beide haben sich in den letzten Jahren nicht dem Konformitätsdruck gebeugt und kritische Fragen gestellt. Schon recht früh wurde gegen sie eine Hetzjagd betrieben. Die Leitmedien forderten, die beiden Wissenschaftler aus dem Universitätsbetrieb auszusondern – teilweise mit Erfolg. Im Februar dieses Jahres wurde Ulrike Guérot wegen mutmaßlicher Verletzung wissenschaftlicher Standards gekündigt.

Ob sich die Wahrheit durch solche Maßnahmen unterdrücken lässt, ist überaus fragwürdig. Mill zeigte sich schon 1859 skeptisch: „Wenn eine Meinung richtig ist, schreibt er in seinem Essay, „mag man sie einmal, zweimal, ja vielmals auslöschen, aber im Laufe der Zeit finden sich im allgemeinen Leute, die sie wiederentdecken, bis einmal eine ihrer Wiedererscheinungen in eine Zeit fällt, wo sie durch günstige Umstände der Verfolgung entgeht.“ Diese Aussage klingt pessimistisch und optimistisch zugleich. Mill ruft in Erinnerung, dass die Geschichte voll ist von Beispielen der erfolgreichen Unterdrückung nicht herrschender Meinungen. Er verweist aber auch darauf, dass deren Wurzel niemals vernichtet können.

Seine Schrift wirkt angesichts der heutigen Verhältnisse geradezu modern, obwohl sie aus einer Periode stammt, als die Freiheitsbewegung noch in den Kinderschuhen stak. Dieser Eindruck beruht hauptsächlich darauf, dass die liberalen Gesellschaften und insbesondere die deutsche hinter jene Zeit gefallen sind. Die gegenwärtige Entwicklung stellt einen beispiellosen Rückschritt in der Zivilisationsgeschichte dar, was sich nicht nur daran ablesen lässt, dass Mills „Über die Freiheit“ aus dem Feuilleton verschwunden und an den Universitäten durch die Gender Studies ersetzt worden ist. Deren dogmatische Grundsätze führen zu einem gesellschaftlichen Klima, in dem eine Furcht vor möglicherweise falschen Äußerungen herrscht. Mill hat es 1859 so formuliert: „Unsere bloß gesellschaftliche Unduldsamkeit tötet zwar niemanden, rottet keine Meinungen aus, zwingt die Menschen aber, sie zu verheimlichen oder von jedem kräftigen Bemühen zur Verbreitung abzustehen.“

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