ressorts.
„Ach, erbarmet meiner euch!“
Tempus fugit

„Ach, erbarmet meiner euch!“

Foto: Pexels/Jordan Benton

Tina Turner (83) ist jüngst in biblischem Alter verstorben. Die Bestürzung darüber erinnert an jene der Apostel nach der Gefangennahme Jesu, als der Sohn Gottes von ungehobelten Schergen wie ein gewöhnlicher Verbrecher abgeführt wurde. Die Jünger blieben fassungslos zurück.

Mit jedem dieser Berufsjugendlichen wird ein ganzer Sack Lebenslügen begraben. Es sieht nicht gut aus. In der Rock´n´Roll Hall of Fame riecht es nach Kampfer und Inkontinenz. Udo Lindenberg (77) sagt seine Konzertreise wegen eines grippalen Infekts ab. Bruce Springsteen (72) ledert es der Länge nach hin, als er in Amsterdam eine Bühnentreppe erklimmen will. Die bombastische Langeweile, die Roger Waters (79) verbreitet, soll ich neuerdings darum gut finden, weil andere Sackgänger seine Auftritte verhindern wollen. Wie komme ich dazu? Mick Jagger (79) ernährt sich seit Jahren nur noch von Joghurt. What can a poor Greis do, except to play in a rock´n´roll band?

Letztes Jahr noch wurde gesunden Leuten das Spazierengehen amtlich untersagt. Aber wer schützt uns vor den Geschmacklosigkeiten des Showbusiness. Depeche Mode, die zum Duo mutmaßlich zusammenvakziniert wurden, geiern neuerdings auch wieder herum. Anstatt „Memento Mori“ zu singen sollten sie es besser beherzigen.

Wer von den Alten macht eigentlich eine gute Figur? Da fallen mir spontan eigentlich nur Helge Schneider (67) und Ivan Mladek (81) ein. Es sind die in der Wolle gefärbten Musikanten und nicht die Poser, deren Musik immer nur der Soundtrack zu ihrem Habitus war. Oder vielleicht noch Ray Davis, der 2005 in New Orleans zwei Räubern nachsetzte, die seiner Begleiterin mit vorgehaltener Waffe die Handtasche raubten. Ihm war es ein Durchschuss im Bein wert, einen der Ganoven fassen zu helfen. Ein ganzer Kerl und dazu auch höflich: Denn als ihn Rockopa Peter Gabriel (73) überreden wollte, mit ihm Lieder der Kinks neu aufzunehmen, lehnte er das rundum ab.

Dieser ganze läppische Humbug, der uns als Popkultur, ein Oxymoron übrigens, angedient wird, ist weder musikalisch subtil noch wirklich anmutig. Je länger der Krieg zurückliegt, mit dem das Beat- und Popgeschäft ebenso untrennbar verbunden ist, wie die Ufa-Filme mit Willy Forst, Paul Hörbiger und Hans Moser, umso abgestandener schmeckt diese Brühe, die uns vor Jahrzehnten als Zaubertrank verabreicht wurde.

Begrabt also mit Euren Stars die Hoffnung auf ewige Jugend. Denn es hört nicht auf. David Crosby, Harry Belafonte, Jeff Beck und Taylor Hawkins sind dahingegangen. Was bitte aber sollte mich daran fassungslos machen? Friede ihrer Asche. Endlich haben sie die Ruhe, die sie uns nicht gönnen wollten. Haben Rundfunk und Fernsehen darüber berichtet, wie nach und nach der letzte Drogist, der letzte handwerkliche Bäcker, der Sattler und der Schmied im Ort ihre Werkstatt geschlossen haben? Und das waren keine Illusionisten und Schausteller, sondern kreative Zeitgenossen, die wirklich seither schwer vermisst werden.

Die Heulbojen, wie sie mein Großvater nannte, und die Katzenmusiker sind dagegen ziemlich problemlos ersetzbar. Der wunderschöne androgyne alte Knabe David Bowie wird inzwischen vollständig von Maden verzehrt worden sein. Es sei denn, übermäßiger Gebrauch von Medikamenten und Halluzinogenen haben eine unverwesliche Wachsleiche aus ihm werden lassen. Aber eine andere Unsterblichkeit wird auch ihm letztlich nicht zuteilwerden. Da helfen keine Ausstellungen im Gropiusbau. Mit dem Aussterben seiner Generation wird die Erinnerung an ihn vergehen. Es ist typisch für schillernde Figuren, dass die Dämmerung ihnen den Garaus macht.

Doch der musikalische Abstieg des Orpheus in die Unterwelt im Reigen der Geister, wie ihn Christoph Willibald Gluck in „Orphée ed Euridice“ vertonte, der wird noch lange bleiben. Im zerbombten Berlin ertönte bereits im Sommer 1945 im Admiralspalast auf der Friedrichstraße unter der Ägide des Genaraloberst der Sowjetarmee Nikolai Bersarin Glucks Beschwörung des wirklichen Lebens:

„Ach, erbarmet meiner euch! Furien, Larven!
Mille pene, ombre sdegnose,
Come voi sopporto anch’io;
Ho con me l’inferno mio,
Me lo sento in mezzo al cor.”


Lew Schütz ist studierter Kunstwissenschaftler und Kultursoziologe, der drei Jahrzehnte im Kulturamt einer großen Kreisstadt in Deutschland gearbeitet hat.

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