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Debatte um russische Kriegstaktik
Ukraine

Debatte um russische Kriegstaktik

Foto: Pexels, Aлесь Yсцінаў

Die westliche Propaganda sieht Russland am Ende und träumt von ukrainischen Siegen am Schlachtfeld. Russische Kritiker finden die eigene Führung zu zögerlich. Dazu hier eine alternative Sichtweise.

Von Nato-Politikern und ihren weitgehend gleichgeschalteten Medien werden spätestens seit 2014 antirussische Klischees auf die Spitze getrieben, „die Russen“ mehr oder weniger als dumm, primitiv, unfähig, rückständig, verschlagen und brutal hingestellt. Das kann nicht weiter überraschen, besteht doch im Westen eine lange Tradition der Russenfeindlichkeit.

Bezüglich des Krieges in der Ukraine mutete die westliche Propaganda ihrem Publikum immer wieder zwei gegensätzliche Behauptung zu: Einerseits stünden die finsteren Russen knapp davor, ins Baltikum, nach Polen oder Moldawien weiterzumarschieren. Andererseits würden sie militärisch aus dem letzten Loch pfeifen. Die ukrainischen Helden, also eine Armee, die sich in der Nachfolge des NS-Kollaborateurs Stephan Banderas sieht, würden von Sieg zu Sieg eilen. Die ehemals pazifistischen deutschen Grünen und andere Nato-Fans propagierten folgerichtig eine Entscheidung am Schlachtfeld.

Die geleakten Pentagon-Dokumente zeichnen allerdings ein weniger rosiges Bild der ukrainischen Armee – siehe auch https://pbschwarzaufweiss.de/bericht/datenleck-und-ukrainische-offensive/ Gleichzeitig gibt es in Russland seit Monaten massive Kritik von reichweitenstarken Militärbloggern und Analysten, die der politischen und militärischen Führung vorwerfen, in der Ukraine zu wenig entschieden vorzugehen und es so der Nato zu ermöglichen, die Ukraine immer mehr aufzurüsten und Russland immer mehr zu gefährden.

Zögerliche russische Kriegsführung?

In eine ähnliche Kerbe schlägt Paul Craig Roberts, ein ehemaliges Mitglied der US-Regierung von Ronald Reagan und seit Jahren Kritiker der US-Außenpolitik. Wie er ebenfalls seit Monaten immer wieder und im Februar 2022 erneut schrieb, „hat Putins idiotische – ja hirnlose – Art der Kriegsführung die Glaubwürdigkeit des russischen Militärs zerstört. Ich bin zunehmend überzeugt, dass das Ergebnis der unsinnigen ‚begrenzten Militäroperation‘ entweder die Kapitulation Russlands oder ein Atomkrieg sein wird. (…) Putins Versäumnis, die notwendige Gewalt zur Unterwerfung der Ukraine einzusetzen, hat das Vertrauen der US-Politiker gestärkt und wird zu weiteren Provokationen Russlands führen. Die Neokonservativen haben Putin faktisch als fähigen Gegner abgetan. Diese Schlussfolgerung birgt Gefahren in sich.“ (https://linkezeitung.de/2023/02/28/putin-ist-in-den-krieg-gezogen-weigert-sich-aber-zu-kaempfen/)

Und Roberts in einem anderen Text vom Dezember 2022: „Putin nimmt Provokationen in Kauf, obwohl er rote Linien erklärt hat, die er nicht durchsetzt. Folglich werden seine roten Linien nicht geglaubt. (…) Putins Ziel war es, einen Krieg zu vermeiden. So bedeutete sein begrenztes militärisches Ziel in der Ukraine, die ukrainischen Streitkräfte aus dem Donbass zu vertreiben, eine begrenzte Operation, die die ukrainische Kriegsinfrastruktur intakt ließ, die in der Lage war, moderne Waffen aus dem Westen zu erhalten und einzusetzen und den russischen Rückzug auf Linien zu erzwingen, die mit den sehr begrenzten Streitkräften, die Putin in den Konflikt geschickt hatte, besser zu verteidigen waren. Die ukrainischen Offensiven überzeugten den Westen davon, dass Russland besiegt werden kann, und machten den Krieg so zu einem primären Mittel, um Russland als Hindernis für Washingtons Hegemonie zu untergraben.“

Und weiter: „Was Putin brauchte, war ein schneller Sieg, der unmissverständlich klarmachte, dass Russland durchsetzbare rote Linien besitzt, die die Ukraine verletzt hatte. Eine Demonstration russischer Militärgewalt hätte alle Provokationen gestoppt. Der dekadente Westen hätte gelernt, dass er den Bären in Ruhe lassen muss.“ Aber Putin „glaubt immer noch, der Westen habe in seiner ‚Führung‘ vernünftige Leute, (…) mit denen er verhandeln kann. Putin sollte mal die Wolfowitz-Doktrin lesen. Wenn Putin nicht bald aufwacht, steht das Armageddon vor der Tür, es sei denn, Russland gibt auf.“ (https://linkezeitung.de/2022/12/20/putin-hat-den-westen-falsch-verstanden-und-wenn-er-nicht-bald-aufwacht-steht-uns-das-armageddon-bevor/)

Alternative Einschätzung

Roberts hat wohl Recht, dass die russische Führung anfänglich auf eine rasche Implosion des Regimes in Kiew gehofft hatte. Nicht zufällig hatte Putin wenige Wochen nach Beginn der Sonderoperation ganz offen gesagt, dass man sich mit der ukrainischen Militärführung wohl schnell auf einen Frieden werde einigen können – wenn diese die politischen Hardliner in der Regierung ausschalte. Das beinhaltete aber wohl eine grobe Fehleinschätzung und ein Versagen der russischen Geheimdienste, denn die ukrainische Armee hatte sich seit dem Maidan-Putsch von 2013/14 erheblich geändert. Die alten sowjetischen Offiziere, die die russische Seite teilweise noch kannte, waren entmachtet und durch Bandera-Nationalisten ersetzt, die Armee mehr oder weniger unter Kommando der Nato gestellt worden.

Spätestens mit der Ermordung des ukrainischen Unterhändlers Denis Kireew durch den ukrainischen Geheimdienst SBU war klar, dass diese russischen Hoffnungen auf ein rasches Ende des Krieges verfehlt waren. Natürlich hätte Russland in den ersten Wochen des Angriffs die Kriegsinfrastruktur der Ukraine weitgehend zerstören und die politische und militärische Führung des Kiewer Regimes ausschalten können. Zu so einem harten Schritt konnte sich Putin aber offenbar nicht durchringen und so musste die Vorgangsweise geändert werden. Bei den von der westlichen Propaganda behaupteten ukrainischen Siegen nördlich von Kiew sowie östlich von Charkow und am Westufer des Dnjepr handelt es sich in Wahrheit um geplante russische Rückzuge zur Frontverkürzung und Konsolidierung.

Eine andere Sichtweise auf den Krieg in der Ukraine als Roberts hat jedenfalls der serbische Analytiker Dragomir Anđelković. Er sieht einen klaren und auch funktionierenden Plan der russischen Führung, den er in seinem Text „Bachmut als ukrainischer Scheideweg“ mit einigen historischen Vergleichen erläutert. Hier nun seine Einschätzung mit einigen Ergänzungen und Kommentaren: Artjomowsk war seit 1926 der sowjetische Name der heute so umkämpften Stadt im Donbass, die 2016 vom ukrainisch-nationalistischen Regime in Kiew wieder in Bachmut umbenannt wurde. Die fast vollständig russischsprachigen 74.000 Einwohner wurden dabei nicht gefragt. Da im Donbass weiterhin die Bezeichnung Artjomowsk üblich ist, werde ich diese im Weiteren verwenden.

Neue russische Strategie

Wenn sich die Schlacht um Artjomowsk dem Ende zuneigt, stellt sich die Frage: Ist dies ein Wendepunkt im Krieg? Wenn nicht, warum dann so viel blutige Erschöpfung der beiden Seiten auf relativ kleinem Raum?

Jahrhundertelang haben russische Führungen, so Anđelković, die Macht des Landes aufgebaut, indem sie rücksichtslos seine menschlichen Ressourcen ausgebeutet haben. Die ganze Welt sei daran gewöhnt. Die Herrscher, mit denen wir die größten Erfolge Russlands in Verbindung bringen – wie Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Katharina die Große oder Josef Stalin – schrieben gnadenlos die glorreichen Seiten der Geschichte mit russischem Blut. Ausgehend von ihren Triumphen, die für die Bevölkerung Russlands so teuer waren, erwarteten viele auf der Welt, als der offene Krieg zwischen Russland und Nato-kommandierten Truppen auf dem Territorium der Ukraine begann, eine ähnliche Vorgangsweise des Kreml.

Eine solche Kriegsanstrengung fehlte, aber das bedeutet nicht, dass es sich um eine wesentliche Schwäche Russlands handelt. Vielmehr gäbe es, argumentiert Anđelković, eine neue Herangehensweise an die Kriegsführung, die für die russische Geschichte untypisch ist. Der Kreml habe sich in der ersten Phase des Konflikts offensichtlich verkalkuliert, als er glaubte, dass nach blitzschnellen russischen Aktionen mit mobilen, aber kleinen professionellen Kräften die neu geschaffene ukrainische Nato-Armee zerfallen würde. Als die russische militärpolitische Führung jedoch erkannte, dass dies nicht realistisch war, habe sie nicht auf die alte russische Weise reagiert, nicht umgehend Millionen Reservisten an die Front geschickt, um einen Sieg zu jedem menschlichen Preis zu erzielen.

Trotz anhaltender interner Kritik startete der Kreml stattdessen einen hartnäckigen Zermürbungskrieg. Mit möglichst geringer Vergeudung russischer Menschenleben nutzte man das, was Russland zur Verfügung steht – hier meint Anđelković wohl speziell die Überlegenheit im Bereich der Artillerie und der Ökonomie. Die Kriegsführung sei so angelegt, dass die menschlichen und materiellen Verluste des Gegners über einen langen Zeitraum erheblich größer sein werden als die eigenen. Während die westliche Propaganda lange das Gegenteil behauptet hatte, belegen die geleakten Dokumente des Pentagon nun das, was die russische Seite seit langem sagte, dass nämlich auf einen gefallenen russischen Soldaten sieben Tote in der ukrainischen Nato-Armee kommen.

Artjomowsk ist der Bereich, in dem diese Kriegstaktik zuletzt kulminierte. Getragen wird der Kampf dort auf russischer Seite kaum von Soldaten der Armee, sondern von Freiwilligen der „Gruppe Wagner“. Ihr Anführer Jewgeni Prigoschin sagte kürzlich, dass seine Einheiten in Raum Soledar-Artjomowsk etwa 6.000 Mann verloren hätten, die ukrainische Seite aber 32.000.

In der Tradition von 1944?

Laut Anđelković konsolidierte Russland nach einer Übergangszeit seine Streitkräfte für diese neue Herangehensweise an den Krieg. Es verfüge nun über ausreichende Kapazitäten, um das ukrainische militärische und westliche materielle Potenzial auf relativ wirtschaftliche Weise schrittweise zu zerkleinern. Die russische Operation, die sich zuletzt auf die Schlacht von Artjomowsk konzentrierte, sei von der sowjetischen Sommeroffensive in Weißrussland im Jahr 1944 inspiriert.

Diese Offensive ist militärhistorisch als „Operation Bagration“ bekannt. Sie führte zum vollständigen Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte und dem Verlust von 28 Divisionen der Wehrmacht. Sie gilt als die schwerste und verlustreichste Niederlage in der deutschen Militärgeschichte. Die während dieser Kämpfe erlittenen Verluste konnte die Wehrmacht nicht mehr ausgleichen.

Die russische Herangehensweise war damals so, dass die oben erwähnte Operation informell als „Fleischwolf“ bezeichnet wurde. Das Ziel des sowjetischen Oberkommandos war kein schneller Durchbruch nach Polen, sondern die vollständige Vernichtung der deutschen Truppen, die Weißrussland verteidigten. Den sowjetischen Armeen wurde befohlen, nicht so schnell wie möglich vorzurücken, sondern in langen Linien Kontakt mit den feindlichen Streitkräften zu halten und sie durch den Masseneinsatz von Artillerie gründlich zu zerstören.

Bei den Deutschen sollte die Illusion geschaffen und so lange wie möglich aufrechterhalten werden, dass sie selbst um den Preis enormer Verluste die Front halten und schließlich den sowjetischen Vormarsch stoppen könnten. Die Absicht war, dass sie, anstatt sich sukzessive zurückzuziehen, während sie ihre Kampfbereiche bewachten, dazu gebracht würden, eine Reihe zermürbender Schlachten zu führen und schließlich zerstört zu werden. Größtenteils war es dann auch so. Adolf Hitler hatte der Wehrmacht strikt befohlen, sich nicht zurückzuziehen, trotz der Warnungen eines Generals vor dem, was die Sowjets vorhatten.

Die Hölle von Artjomowsk

Einige Militärexperten warnen Kiew und Washington seit geraumer Zeit vor einer russischen Neuauflage der Operation Bagration – allerdings in deutlich kleinerem Ausmaß, da heute hunderttausende Soldaten aufeinanderprallen und nicht Millionen-Armeen wie im Zweiten Weltkrieg. Ihre Appelle blieben jedoch ohne Reaktion derjenigen, die von westlicher Seite über den Krieg in der Ukraine entscheiden.

Artjomowsk wurde mit schrecklichen ukrainischen Verlusten verteidigt, die die zweifellos ebenfalls bedeutenden russischen um ein Vielfaches übersteigen. Und Kiew wird an anderen wichtigen Punkten der ausgedehnten Befestigungslinie in den Gebieten des Donbass vermutlich dasselbe tun. Die russischsprachige Bevölkerung in diesen Gebieten wird von den ukrainischen Nationalisten ohnehin verachtet und die Orte, die man seit 2014 zu Betonfestungen ausgebaut hatte, will man jetzt offenbar entsprechend militärisch nutzen – auch weil die Regionen dahinter schlechter befestigt sind

In den kommenden Kriegsmonaten sind ukrainische und russische Offensiven auf dem gesamten Schlachtfeld zu erwarten, aber der anhaltende Druck der Streitkräfte der Russischen Föderation auf die noch nicht befreiten Teile der Gebiete Donezk und Luhansk wird, so Anđelković, eine Konstante sein. Dort werde der „Fleischwolf“ – so schrecklich der Begriff auch sei – weiter intensiv arbeiten, bis das passiert, womit Moskau rechnet.

Ukrainische und russische Gesellschaft

Was die Russen früher oder später erwarten und zu einem mehr oder weniger siegreichen Ende des gegenwärtigen Krieges führen wird, hat laut Anđelković eine lokale und eine globale Dimension. Was das erste betrifft, so wird geschätzt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die Ukraine zusammenbricht. Kiew nähert sich dem totalen Krieg. Alle Ressourcen des Staates, von materiellen bis hin zu biologischen, wurden mobilisiert.

Es wird geschätzt, dass auf ukrainischer Seite derzeit über 1,5 Millionen Menschen unter Waffen stehen, was eine enorme Anstrengung für ein Land ist, das bereits extrem hohe Verluste erlitten hat. Und wenn man zu den wohl hunderttausenden Gefallenen noch diejenigen dazuzählt, die in von Russland kontrollierten Gebieten leben oder in den Westen oder nach Russland geflohen sind, dann leben unter der Herrschaft des Regimes in Kiew nur noch 20 Millionen Menschen; während die Ukraine 1991 beachtliche 51,5 Millionen Einwohner hatte und 2021 immerhin noch 41 Millionen.

Die Ukrainer kämpfen, so Anđelković, unerwartet hart, erleiden aber schreckliche Schläge. Vorerst werden sie noch in der Phalanx der Nato gehalten – durch eine Kombination aus nationalistischer Propaganda, faschistoider Unterdrückung, unrealistischen Siegeserwartungen und dem Glauben, dass sie durch das Vergießen von Blut für sich und ihre Kinder eine Eintrittskarte in ein illusorisches EU-Paradies lösen. Aber wenn die Schrecken des Krieges weitergehen und die Aussichten, Träume zu verwirklichen, immer unwahrscheinlicher werden, ist für Anđelković mit einer Explosion des Defätismus zu rechnen. Von da bis zu einem zumindest teilweisen Zusammenbruch der Armee und ihrer sozialen Unterstützung sei es nur ein Schritt.

Während die herrschende Oligarchie der Ukraine – vielleicht unvermeidlich, wenn sie den Krieg fortsetzen will – ihre Zivilbevölkerung und ihr Militär bis zum Äußersten belastet, sind die Auswirkungen des Konflikts in Russland relativ schwach. Anders als in der westlichen Propaganda dargestellt, leben die meisten Russen weitgehend wie vor dem Krieg. Der Kreml beschloss, die letztjährige Mobilisierung kurzfristig und wenig umfassend zu gestalten – um die Armee nach anfänglichen Versäumnissen schnell zu konsolidieren – und dann zu einer Vertragsrekrutierung überzugehen. Die russische Armee erhält etwa 16.000 Vertragssoldaten pro Monat, was die Verluste deutlich übersteigt, sodass die Zahl ihrer Mitglieder trotz der Schlacht um Bachmut und einer Reihe kleinerer, aber ähnlich intensiver Aktionen allmählich zunimmt. Andererseits erreichte die ukrainische Seite nach westlichen Schätzungen im November 2022 den höchsten Stand.

Ressourcenkrieg

Die Ukraine verfügt nicht mehr über ausreichende Mobilisierungsquellen, während Russland mit seiner viel größeren Bevölkerung und seinen finanziellen Ressourcen ohne eine Vorgehensweise, die einen neuen Bevölkerungsabfluss mit dauerhaften demografischen und wirtschaftlichen Folgen verursachen würde, sein militärisches Potential stärkt. Die russische Armee erhält mehr Waffen aus Reserven und laufender Produktion, als der Westen in die Ukraine schickt. Anđelković meint, es sei dem Kreml gelungen, das nationale Potenzial mit dem in Einklang zu bringen, was erforderlich ist, um einen Zermürbungskrieg zu gewinnen. Und wenn Putin doch eine breite Mobilisierung durchführen wollte, würde ihm das gelingen. Die jetzige Option wurde nicht aus Angst vor einer Rebellion gewählt, sondern wegen des Schadens, den das Land langfristig haben würde.

Während Russland nach über einem Jahr Krieg wirtschaftlich und gesellschaftlich stabil dasteht, gibt es in den Nato-Ländern, die mit ukrainischem Kanonenfutter Krieg gegen die Russische Föderation führen, zunehmend Probleme: die Kriegsinflation, die Energiekrise, die Finanzkrise und verängstigte und zunehmend unzufriedene Bevölkerungen. Es ist deshalb, so Anđelković, nur eine Frage der Zeit, bis der Westen die Versorgung und Finanzierung der Ukraine ernsthaft reduziert und damit ihren Zusammenbruch beschleunigt.

Für die Russen sei dieser postmoderne Krieg patriotisch. Sie verstehen, dass Russland nirgendwo hingehen kann und kämpfen muss, aber im Geiste unseres hedonistischen Zeitalters, das auch dieses Land charakterisiert, ist die Mehrheit seiner Bevölkerung nicht bereit, direkt Krieg zu führen, was die Regierung erkannt hat und berücksichtigt. Aber die Russen würden verstehen, dass es notwendig ist, die militärischen Bemühungen des Landes mit einem gewissen Maß an Verzicht, der nicht sehr bedeutend ist, maximal zu unterstützen.

Der chinesische Faktor

Lag Russland zu Beginn des Krieges falsch und erwartete, dass die Ukraine nach den ersten Schlägen wie ein Kartenhaus zusammenbrechen würde, so begingen die USA, so Anđelković, einen viel größeren Fehler: Die US-Führung erwartete, dass umfassende Sanktionen zum wirtschaftlichen Zusammenbruch Russlands führen und innerhalb von sechs bis zwölf Monaten die Fortsetzung der Krieges verunmöglichen würden. Um Moskau zu vernichten, zwang Washington seine EU-Vasallen, die Energiekooperation mit Russland zu beenden. Außerdem zerstörten die USA zur Sicherheit auch die Gaspipelines, durch die Deutschland und andere europäische Länder mit russischem Gas versorgt wurden.

Die Folge ist ein starker Anstieg der Energiepreise, der kurzfristig anhalten könnte, langfristig aber zu einem Faktor wird, der viele EU-Mitglieder in den Ruin treibt. Darüber hinaus wenden sich eine Reihe ehemaliger amerikanischer Partner, von der Türkei bis Saudi-Arabien, sukzessive Russland und China zu. Und dieses mächtige asiatische Land – das sich bewusst ist, dass es als nächstes an der Reihe ist, um erschossen zu werden, falls die USA Russland zerstören – hat Moskau viel mehr unterstützt, als Washington autistisch erwartet hatte.

Peking ist offensichtlich bereit, wenn es keine andere Lösung gibt, seine wirtschaftlichen Beziehungen zum Westen aufs Spiel zu setzen. Der Binnenmarkt Chinas und die Auslandspositionen, die das Land bisher und unter diesen Bedingungen erworben hat, garantieren eine deutlich schnellere Entwicklung als die USA, Japan und die EU-Staaten. Wem vorher nicht klar war, was die chinesische Wahl sein wird, dem wurde es sicherlich nach dem jüngsten Besuch des chinesischen Führers in Moskau klar – sowie nach dem Scheitern aktueller europäischer Initiativen, die darauf abzielen, die chinesische Unterstützung für Russland zu relativieren. China und die EU werden die Zusammenarbeit fortsetzen, aber nicht mit der Bereitschaft Pekings, den Preis dafür zu zahlen, indem es Russland die Unterstützung verweigert.

Neuer dreißigjähriger Krieg

Während Artjomowsk von den Wagners eingenommen wird und der Krieg weiter tobt, wird laut Anđelković immer klarer, dass dieser Kampf Teil einer langwierigen Reihe von Konflikten und Krisen in verschiedenen Regionen der Welt sein wird. Das Scheitern der US-Politik könne in Artjomowsk oder an einem anderen Punkt offensichtlich werden. Bevor die Ukraine zusammenbricht, werde Washington Ende dieses Jahres oder Anfang nächsten Jahres einen Verhandlungsprozess einleiten, aus dem Russland mit verwirklichten territorialen Kriegszielen (Befreiung des gesamten Donbass, Korridor zur Krim) hervorgehen wird. Der Rest der Ukraine werde eine amorphe Pufferzone außerhalb der Nato bleiben – wenn es Polen, so kann ergänzt werden, nicht gelingt, kleinere oder größere Teile der Ukraine in eine „Konföderation“ zu bringen oder offen zu annektieren.

Die US-Dominanz wird weiterhin in der angelsächsischen Welt, der EU und Japan und einigen kleineren Vasallen erhalten bleiben, während der allmähliche Zusammenbruch der globalen US-Vormachtstellung weitergehen wird. Die USA werden versuchen, das so gut wie möglich zu verhindern, indem sie eine Reihe von Kriegen und anderen Krisen auf der ganzen Welt anzetteln – natürlich mit viel Blutvergießen und dem Leid der Bürger westlicher und nicht-westlicher Länder. Schließlich haben fast alle Imperien in der Vergangenheit so gehandelt, um ungünstige Prozesse zu verlangsamen.

Was Artjomowsk betrifft, so ist Anđelković der Ansicht, dass die Stadt ein Meilenstein für das sein werde, was in der kommenden Zeit an anderen wichtigen Konfliktpunkten geschehen wird. Wenn jedoch die ukrainische Periode des neuen „Dreißigjährigen Krieges“ endet, werde die „Operation Artjomowsk“ als ihr symbolischer Wendepunkt anerkannt werden.

Kritische US-Militärs

US-amerikanische Offiziere können klarerweise nicht offen äußern, was sie über die Lage in der Ukraine wissen und denken, ohne existenzielle Probleme mit dem Pentagon zu bekommen. Ehemalige Offiziere tun das aber sehr wohl. Scott Ritter, ehemaliger nachrichtendienstlicher Offizier des US Marine Corps, Veteran des Golfkrieges 1991 und danach Inspektor der UNSCOM-Mission im Irak, kritisiert sie US-Führung seit Jahren und nimmt sogar eine tendenziell russlandfreundliche Position ein. Er ist aber längst nicht mehr der einzige.

Der ehemalige US-Navy-Offizier Byron King sagte kürzlich, die USA stünden in der Ukraine vor einer Katastrophe ähnlich den Niederlagen in Vietnam und Afghanistan und insgesamt vor einem geopolitischen Fiasko. King weiter: „Weder die USA noch die Nato-Staaten haben eine ausreichende militärisch-industrielle Basis, um das Ausmaß der Militärproduktion zu erreichen, das Russland dauerhaft bereitstellen kann.“ Die Auseinandersetzung in der Ukraine werde für Kiew „extrem schlecht enden“ und dasselbe gelte für den größten Teil Europas und die Nato.

Und der ehemalige US-Offizier, Golfkriegsveteran von 1991, Militärtheoretiker und frühere Berater des Pentagon Douglas Macgregor ist überzeugt, dass die Ukraine im Krieg gegen Russland trotz Nato-Unterstützung verlieren werde. Die Chancen auf die Rückeroberung der Krim seien ebenso minimal wie die der USA, die Milliarden zurückzubekommen, die in die Ukraine gepumpt wurden. Die Ukraine sei „ein despotischer Staat mit einem System, das einem faschistischen Einparteienmodell ähnelt“. Und zur Stimmung in der ukrainischen Armee sagte Macgregor kürzlich in einem Interview: „Wenn Sie analysieren, was ukrainische Soldaten von der Front auf Telegram und anderen Internetplattformen posten, lässt sich leicht der Schluss ziehen, dass viele Selenskyj und seine Handlanger gerne aufhängen würden. Bevor die Russen sie erwischen.“

Eric Angerer ist Historiker, Journalist und Sportlehrer. Er unterstützte lange Zeit betriebliche Selbstorganisation von Beschäftigten in Industrie und Gesundheitswesen und war zuletzt im Widerstand gegen das Corona-Regime aktiv.

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