ressorts.
Willkommen in der DDR
Prozess gegen Paul Brandenburg

Willkommen in der DDR

Einst wachte die Stasi über den normenkonformen Lebenswandel. Heute tut dies die Polizei. Einige sahen diese Entwicklung voraus.

Den Prozess gegen den Arzt und Publizisten Paul Brandenburg ins Rollen gebracht hatte der Berliner Polizist Jakob Wallbach. Obwohl Wallbach nach eigenen Angaben nur gelegentlich die Auftritte von Brandenburg verfolge, hatte er das Kunstwerk „Genderhakenkreuzchen“, das lediglich fünf Stunden online war, bemerkt und von Amts wegen zur Anzeige gebracht.

Aus seiner Anzeige, aus der bei der Verhandlung am vergangenen Donnerstag Brandenburgs Anwältin Jessica Hamed zitierte, war aufschlussreiches über Wallbachs Motivation zu erfahren. So hätten die bisher ergriffenen polizeiliche Maßnahmen, allen voran Hausdurchsuchungen wegen angeblich illegalem Waffenbesitzes, nicht zu einer „Deradikalisierung“ und zu einem „normkonformen Lebenswandel“ Brandenburgs geführt. Im Gegenteil, Brandenburg würde „als Märtyrer gefeiert“, darüber hinaus konnte er seine „Reichweite steigern“.

Die Worte seien zwar nicht direkt von ihm, erklärte Wallbach, er hätte sie aber übernommen und aufgeschrieben. Von wem genau er sie übernommen hatte, blieb unklar. Fest steht, dass derjenige, dessen Ghostwriter Wallbach war, zu wissen scheint, was ein „normenkonformes Leben“ ist, und was radikal ist, und was nicht. Seine Reichweite zu steigern und von anderen als Märtyrer gesehen zu werden, können weitere Gründe sein, selbst als unbescholtener Bürger überwacht zu werden – möglicherweise mehr als nur gelegentlich.

Die logische Konsequenz daraus kann nur sein, dass ein jeder darauf bedacht sein sollte, ein möglichst „normenkonformes Leben“ zu führen. Darüber hinaus, nicht radikal zu sein oder gar zu werden, wobei andere beurteilen, was radikal ist und was nicht. Man kennt das: „Wer radikal ist, bestimme ich!“ Auch vom Steigern seiner Reichweite, das Ziel eines jeden Internetauftritts, kann nur abgeraten werden. Vom Umstand, dass andere einen als Märtyrer sehen, sowieso.

So gesehen war die Ladung Wallbachs als Zeuge durchaus erhellend. Zur eigentlichen Sache hat sie allerdings nur wenig beigetragen. Zur Erinnerung: In dem Prozess ging es um die Frage, ob das von Brandenburg veröffentlichte Kunstwerk „Genderhakenkreuzchen“ durch die Kunstfreiheit gedeckt ist oder nicht. Hätte man dies ernsthaft herausfinden wollen, hätte man den Künstler Oliver Sperl einladen müssen. Dass dies ausblieb, kann nur bedeuten, dass der Prozess eine andere Aufgabe hatte. Eine, die man früher als „erzieherische Maßnahme“ bezeichnet hat.

Denn für die älteren, im Osten sozialisierten Beobachter dürfte der Prozess ein Déjà-vu gewesen sein. In der DDR wachte die Staatssicherheit (Stasi) darüber, dass die Bürger ein „normenkonformes Leben“ führen. War man einmal in ihr Visier geraten, war die Überwachung auch damals schon eher flächendeckend als nur gelegentlich. Die Stasi legte ebenfalls fest, was radikal ist, und was nicht. Reichweite und Märtyrertum waren auch früher schon problematisch.

Bärbel Bohley, die wohl bekannteste Bürgerrechtlerin der DDR, sah diese Entwicklung bereits Anfang der Neunziger voraus. Sie war sich sicher, dass die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen derer, die sich nicht anpassen, wiederkommen werden. Man würde die Störer nicht unbedingt verhaften, so Bohley. Es gäbe feinere Möglichkeiten, jemanden unschädlich zu machen. Der gestrige Prozess gegen Brandenburg bestätigt Bohleys düstere Prognose. Wallbachs Auftritt ist ein Hinweis darauf, dass die Berliner Polizei noch an ihrer Performance arbeiten muss.

Für sie wäre es besser gewesen, die Öffentlichkeit hätte von alledem nichts erfahren. Dass heute Polizisten wie Wallbach darüber wachen, dass Bürger wie Brandenburg, der nicht vorbestraft ist, ein „normenkonformes Leben“ führen, ist eigentlich schlimm genug. Hinzu kommt allerdings, dass da, wo „normenkonformes Leben” ist, die „Normopathie“ nicht weit ist. Der Begriff „Normopathie“ geht auf den bekannten Psychotherapeuten und Bestsellerautor Dr. Hans-Joachim Maaz zurück. Unter Normopathie versteht er die Anpassung einer Mehrheit von Menschen einer Gesellschaft an eine Fehlentwicklung, an pathogenes psychosoziales Verhalten. Die Störung wird allerdings nicht als solche erkannt, sondern ist im Gegenteil akzeptiert, weil eine Mehrheit so denkt und handelt.

Neuerdings wird diese pathologische Anpassung auch wieder kontrolliert. Vermutlich werden mehr Menschen als gemeinhin gedacht auf ihren „normenkonformen Lebenswandel“ überprüft, und auch öfter als nur gelegentlich. Diesmal nicht von der Stasi, sondern von der Polizei, die allerdings noch besser werden muss. Zumindest in Berlin gibt es noch Luft nach oben.

Diesen Artikel teilen:

Facebook
Twitter
LinkedIn
Telegram

schwarz auf weiß unterstützen

Freiwilliges Zeitungs-Abo oder Einzelspende an:

IBAN: DE83 1005 0000 0191 2112 65
(BIC: BELADEBE)

Kontoinhaber: Flugwerk UG (haftungsbeschränkt)

oder hier PayPal –

Ein Abo ist freiwillig. Alle Inhalte sind ohne Bezahlung verfügbar.

ODER
alles von Paul Brandenburg

Spenden an Paul Brandenburg persönlich werden für alle seine Projekte verwendet: